jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

Hinweis zur Nutzung

Protestperlen, die auf diesem Computer noch nicht besucht wurden, haben einen leuchtenden Schatten. Nach dem Besuch verschwindet der Schatten. So sind unbesuchte Protestperlen leicht visuell erkennen.
Der Speicher für besuchte Protestperlen kann über diesen Link zurückgesetzt werden. Danach leuchten wieder alle Perlen.

Sybille Bauriedl, Inken Carstensen-Egwuom

Kolonialdenkmäler: Die weiße Art des Sehens

Ulrike Bergermann hat uns als postkoloniale Geographinnen und rassismuskritische Stadtaktivistinnen auf sehr viele Fährten post_kolonialer Theorien geleitet. In ihrem aktuellen Buch „Kakaogeschmack. Koloniale Ästhetik und kollektive Taste Tanks“ schreibt sie nebenbei über Kolonialdenkmäler und legt dabei neue Spuren. Sie verweist auf Nicholas Mirzoeff, der den Zusammenhang von Black Lives Matter, weißen Statuen und öffentlichen Räumen analysiert und mit dem Begriff „White Sight“ sowohl eine Art des Sehens als auch als eine mächtige Infrastruktur bezeichnet, die das Wissen über die Welt und die Möglichkeiten des Handelns in ihr reguliert. Sie zitiert: „Nicholas Mirzoeff ruft zu einem ‚Streik gegen das weiße Sehen‘ auf, gegen bestimmte Wahrnehmungsstrukturen und ihre Objekte; das bedeute, ‚nicht an weißen Sehgewohnheiten teilzunehmen‘, und kann sich auf Aktionen gegen die Verkörperungen weißer Vorherrschaft, wie koloniale Denkmäler, oder andere Formen der ‚Entkräftung weißer Infrastrukturen‘ erstrecken.1 Denkmäler und Statuen verkörpern für Mirzoeff die weiße Art des Sehens“.2

Mit Denkmälern und Statuen setzen wir uns seit einigen Jahren im Kontext postkolonialer, europäischer Hafenstädte auseinander und interessieren uns für Repräsentationsdiskurse, Protestbewegungen und Gegenentwürfe. Gemeinsam mit Ulrike Bergermann haben wir uns viele Denkmäler angesehen, die ungebrochen an imperiale Herrscher*innen und an Kolonialprofiteure erinnern und auch Orte, die Widerstand gegen koloniale Ausbeutung erfahrbar machen. Im Folgenden stehen ein paar skizzenhafte Berichte zu unserer Auseinandersetzung mit Denkmälern, die immer auch Übungen mit dem Ziel des Verlernens eines weißen Sehens sind.

Postkoloniale Stadt als Kontext

Denkmäler mit Kolonialbezug sind in europäischen Städten nach wie vor an zentralen Orten im öffentlichen Raum platziert, sind sichtbar und zugänglich, zeigen Repräsentationsformen ihrer Entstehungszeit, die mit Interessen, Wissen, Erfahrungen und Affekten der Gegenwart verbunden sind. Damit sind sie prädestiniert dafür, Aushandlungsorte sozialer und politischer Kämpfe zu sein. Denkmäler für Versklavungsakteure, kolonialismusermöglichende Politiker*innen und Kolonialismusprofiteure sind ein Medium selektiven Erinnerns, das Informationen aus einer eurozentrischen Perspektive bereitstellt. Dabei verstehen wir den öffentlichen Raum in der Stadt als Archiv, in dem Informationen selektiert und präsentiert werden, und das privilegierten Subjekten mehr Sichtbarkeit gewährt als anderen. So wird gleichzeitig beansprucht, eine nationale oder lokale Geschichte abzubilden und die Gesamtgesellschaft ansprechen zu wollen. Diese Praxis wird aus intersektional-dominanzkritischer, Schwarzer und feministischer Perspektive als performative Machterhaltung bezeichnet.3 Protest gegen das Entinnern (nicht erinnern wollen) kolonialer Gewalt richtet sich daher häufig gegen Kolonialdenkmäler. Durch ihre Platzierung an herausragenden Orten repräsentieren sie im besonderen Maße die hegemoniale Erinnerungskultur einer weißen postkolonialen Gesellschaft.

Ehemalige europäische Kolonialmächte feiern Ereignisse, die in der Kolonialzeit stattgefunden haben, ohne deren Kontext explizit zu benennen. So trennen sie die Kolonialgeschichte von ihrer National- und Stadtgeschichte. Verbindungen zu kolonialen Gewaltstrukturen werden im selektiven Erinnern von historischen Personen, Ereignissen und Orten nationaler Identität abgeschnitten. Vieles kann somit nicht mehr gesagt und gedacht werden – auch wenn es gewusst wird. Mit Ann Laura Stoler4 betonen wir also, dass es bei der Kritik am selektiven Erinnern und Entinnern nicht um „hartnäckige Ignoranz“ mit Bezug auf koloniale Kontexte geht, sondern darum, welche Konzepte, Praktiken, (akademische) Konventionen und Affekte es ermöglichen oder verhindern, die Bedeutung kolonialer Gewaltgeschichten anzuerkennen.

Ein selektives, eurozentrisches Geschichtsbild, das im Medium des städtischen Raumes (re)produziert wird, materialisiert sich auch in neu errichteten oder zur Erhaltung ausgewählten und daher unter Denkmalschutz stehenden städtischen Infrastrukturen. Insbesondere europäische Hafenstädte wie Amsterdam, Liverpool, Kopenhagen oder Hamburg wurden und werden als Aushängeschilder einer heroisierenden, romantisierenden und verharmlosenden Kolonialismuserzählung herausgeputzt: Historische Hafenanlagen, Speicherstädte, Kontorhausviertel, bürgerliche Museen und Landschaftsparks werden zu touristischen Anziehungspunkten gemacht. Straßen und Plätze in den neuen Wohn-, Büro- und Geschäftsvierteln der historischen Hafenareale erhalten ganz selbstverständlich Namen sogenannter ‚Entdecker‘ wie Vasco Da Gama und Amerigo Vespucci, neue Geschäftsviertel heißen Überseequartier und neue Wohngebäude Cinnamon Tower (alle Beispiele aus der HafenCity Hamburg). Diese Namen lösen offensichtlich bei den Quartiersentwickler*innen und verantwortlichen Kommunalpolitiker*innen eine positive Erinnerung an imperiale Macht aus, die privilegierte, weiße Bewohner*innen und Konsument*innen in das maritime Stadtquartier locken soll. Diese Praxis der Stadtentwicklung, die eine imperiale Ausbeutungsgeschichte als Erfolgsgeschichte festschreibt, findet sich in vielen Regierungs- und Hafenstädten der kolonialen Zentren Europas. Gegen diese (Re)Produktion kolonialer Gewalt formiert sich an immer mehr Orten Protest.

Fallismus überall?

Es existieren unterschiedliche Verständnisse von Fallism und zur Frage, ob es eine dekoloniale Strategie ist, die nach Nordamerika und Europa übertragen werden kann. In der aktivistischen Praxis haben sich Bewegungen, die sich gegen kolonialverherrlichende Denkmäler engagieren, rasch global an den „Must Fall“-Slogan angeschlossen, direkt bspw. in Oxford als „Rhodes must Fall Oxford (#RMFO)“. Treiber für Denkmalstürze in europäischen Städten ist nicht nur Schwarzer Schmerz, sondern auch weißes Unbehagen gegenüber dem kolonialen Erbe.

Aber immer geht es um eine Störung des vorherrschenden Bewusstseins und Wissen über koloniale Gewalt, um epistemischen Ungehorsam, wie Abdul Kayum Ahmed5 mit Referenz auf Walther Mignolo betont.

„Fallism“ ist eine neue Bewegung, die an Kämpfe um eine formale Entkolonisierung ab den 1950er Jahren auf dem afrikanischen Kontinent anknüpft. Dortige Kolonialstatuen wurden nicht nur als historische Repräsentationen der Kolonialherren verstanden, sondern auch als Kontinuität des Imperialismus. Frantz Fanon schrieb in „Die Verdammten dieser Erde“, zur Zeit der antikolonialen Befreiungskämpfe, über „eine aufgeteilte, versteinerte Welt, eine Welt der Statuen: die Statue des Generals, der die Eroberung anführte, die Statue des Ingenieurs, der die Brücke baute. Eine Welt, die sich ihrer selbst sicher ist und deren Versteinerungen das Rückgrat der von der Peitsche Gezeichneten sind“.6 Seit dieser Zeit dauern Proteste gegen und Stürze von Kolonialdenkmälern an.

Für eine Begriffsbestimmung von Fallism zitiert Susan Booysen in ihrem Sammelband „Fees Must Fall: Student Revolt, Decolonization and Governance in South Africa“ die Rhodes must Fall-Aktivistin Athabile Nonxuba: „Ein Bekenntnis, dass alles, was mit der Unterdrückung und Eroberung der Schwarzen durch die weiße Macht zu tun hat, fallen und zerstört werden muss“ (Übers. d. A.). Fallism verlangt also radikalen, grundlegenden Wandel. Es sind die systemischen rassistischen Exklusionsstrukturen an Südafrikanischen Universitäten, welche die Fallism-Bewegung angreift. Dies zeigt die Breite der Bewegung, die mit weiteren Themen verknüpft wird: „Fallism und die Forderungen nach der Rückgabe der aus Afrika geplünderten Kulturgüter sind Teil des gleichen Kampfes, sagen die Professoren Dan Hicks und Nicholas Mirzoeff” (New African, 17.8.2020, Übers. d. A.).

Der „Must Fall” Slogan ist kein Theoriegebäude, sondern ein Programm für politischen Aktivismus und politische Aktion gegen die Unterdrückung Schwarzer Menschen und eine erfolgreiche, disruptive Taktik. Der soziale und politische Kampf nimmt mit dem Kolonialdenkmal einen physischen Ort ein, nutzt ihn als einen Ort öffentlicher intellektueller Debatten und des performativen sozialen Aktivismus. Fallism geht es nicht um das Vernichten von Erinnerung oder das Auslöschen und Vergessen der Vergangenheit, sondern um das Dekonstruieren und Untergraben eines problematischen Erbes und dessen Öffnung für neue Bedeutungen.7

„Rhodes must fall“: Denkmalprotest für soziale Gerechtigkeit

Im März 2015 entleerte der Student Chumani Maxwele auf dem Campus der Universität von Kapstadt vor der Bronzestatue von Cecil Rhodes einen Eimer Scheiße. Er protestierte damit gegen die Repräsentation weißer Vorherrschaft und Unterdrückung Schwarzer Menschen. Es folgte eine wochenlange Besetzung, Verfremdung und Umgestaltung der Rhodes-Statue durch Graffiti, Banner, Performances und Wissensaustausch, der über Social Media mit den Hashtags #RMF und #RhodesMustFall große Reichweite erlangte. Rhodes, der mit dem Handel südafrikanischer Diamanten superreich wurde, war treibender Akteur der Aufteilung, Kolonisierung und Ausbeutung Afrikas, ab 1890 Premierminister der Kapkolonie und Propagandist kolonialer Ausbeutung. Die Aktivist*innen von #RMF machten durch ihre Aktionen die anhaltende rassistische Verherrlichung von Kolonialakteuren in der öffentlich repräsentierten Geschichte Südafrikas aufmerksam. Sie lösten damit eine Studierendenbewegung aus, die u.a. dazu führte, dass 25 Jahre nach dem Ende der Apartheid das Rhodes-Denkmal im April 2015 entfernt wurde. Die südafrikanische Fallism-Bewegung und die davon inspirierten Bewegungen andernorts haben die euro-amerikanischen Kulturinstitutionen und Kommunalverwaltungen, die für den Umgang mit Denkmälern verantwortlich sind, herausgefordert. Der Anspruch der Nachfahren der Kolonisator*innen, ihre Vorherrschaft sei buchstäblich in Stein gemeißelt, war ins Wanken geraten.

Denkmäler stürzen (wollen) ist nicht nur eine Praxis des Umgangs mit kolonialem Erbe, sondern auch eine Reaktion auf Ungerechtigkeit und Unterdrückung, die Menschen heute erleben. Die Proteste gegen Denkmäler der Verantwortlichen und Täter*innen kolonialer Gewalt verbinden sich mit sozialen Kämpfen der Gegenwart. Die Kampagne „Rhodes Must Fall“ an der University of Cape Town setzte sich in der Kampagne „Fees must fall“ fort und thematisierte mit #OutsourcingMustFall die Ausbeutung von in Subunternehmen ausgelagerten, schlecht bezahlten Service-Arbeiterinnen an südafrikanischen Universitäten.8 Dabei entwickelte die Kampagne Strategien und Ziele auf der Basis einer gemeinsamen theoretischen Arbeit insbesondere bei der Besetzung des Bremner Verwaltungsgebäudes (von den Aktivistinnen umbenannt in „Azania House“) vom 20. März bis 9. April 2015 und begründete ihre Arbeit in den Beiträgen des Panafrikanismus, des Black Consciousness und Schwarzem Feminismus.9

Das „Fallist Movement“ argumentiert, dass nicht nur das Rhodes Denkmal auf dem Gelände der University of Cape Town, sondern die epistemische Architektur der Universität tief in der Kolonialität verwurzelt ist und dass folglich die Universität, wie wir sie kennen, fallen muss. Diese Idee reiste mit dem Hastag #RhodesMustFall an die Universität Oxford und dortige Studierende starteten eine studentische Bewegung mit Forderungen zur Dekolonisierung englischer Universitäten. So zeigt sich in der Analyse der Fallism-Bewegungen auch die paradoxe Position von unseren Arbeitsorten, von Universitäten, als autorisierte Zentren der Wissensproduktion, die seit Jahrhunderten für Schwarze und andere marginalisierte Körper gleichzeitig Institutionen der Ermächtigung und Entmenschlichung sind. Daraus folgt der Impuls und die Aufforderung, die Universität von ihren Rändern her als Orte des Widerstands, der Kreativität und der Macht, anders zu denken.10

Colston falled: Weiße Vorherrschaft abräumen

Edward Colston hat zwischen 1672 und 1689 mit der Verschleppung und Versklavung von über 80.000 Menschen enormen Reichtum erlangt hat. Die Statue wurde 1895 posthum von lokalen Eliten in Bristol finanziert und errichtet. Am 7. Juni 2020 wurde die Colston-Statue im Rahmen einer großen BLM-Demonstration umgestürzt, 300 Meter die Colston Avenue entlanggeschleift und anschließend im historischen Hafenbecken versenkt. Danach diente der Sockel wochenlang als Ort der Ermächtigung antikolonialer Performances, die neue ikonographische Bilder der BLM-Bewegung geschaffen haben.

Die Colston-Statue wurde kurz nach ihrer Versenkung wieder an Land geholt und zur Erinnerung an den Denkmalsturz im Stadtmuseum platziert. Der Denkmalsockel steht noch an seinem ursprünglichen Platz und wird gelegentlich temporär bespielt. Seit Oktober 2023 ist der interaktive audio history walk „Colston's Last Journey“ des Künstlers Ralph Hoyte abrufbar, der die Geschichte des Denkmalprotestes und des Widerstands gegen Versklavungshandel erlebbar machen will. Die Tour führt entlang der Strecke, auf der die Colston-Statue vom Denkmal bis zum Hafenbecken geschleppt wurde. In den Jahren vor dem Denkmalsturz gab es etliche künstlerische Interventionen zu der Statue, wie die Installation „Here and Now“ am 18.10.2018 (am Anti-Slavery Day) mit Betonfiguren, die als Schiffsladung mit gefangenen und versklavten Menschen angeordnet sind, umrandet von Blöcken, die Formen aktueller Arbeitsverhältnisse in der modernen Sklaverei benennen.

Anti Slavery Art Installation, 22.20.2018 © Stuart Holdsworth

Die Debatte darum, ob der Sturz von Denkmälern legitim und eine angemessene Form des Protestes ist, wird seit Jahrzehnten konträr geführt und es werden vor jedem Denkmalsturz viele Gründe für deren Fortbestehen aufgeführt. Für manche steht die Beteiligung der durch Statuen repräsentierten Akteure der Versklavungsökonomie – und damit die Legitimierung von Grausamkeit und Menschenverachtung – im Vordergrund der Wahrnehmung, von anderen werden die repräsentierten Subjekte historisch eingehegt und vom Rassismus der Gegenwart abgetrennt betrachtet. Zuallererst ist der Denkmalsturz oder die Denkmalumgestaltung ein Ausdruck der Deprivilegierung weißer Vorherrschaft, konkretisiert in historischen Persönlichkeiten, die eine Normalisierung von kolonialer Gewalt symbolisieren.

Bei Auseinandersetzungen um Denkmäler geht es immer um Deutungshoheit über Erinnerung, um umkämpfte Verständnisse von epistemischer Gerechtigkeit und um die Legitimierung von aktuellen und historischen Herrschaftsverhältnissen.

“Otto must fall”: künstlerische Kontextualisierung unmöglich

Das deutsche Erbe aus den Profiten der Versklavungsökonomien, der kolonialen Ausbeutung in Kamarun, Tansania, Ruanda, Neuguinea und dem Genozid in Namibia wird so umfassend und erfolgreich dethematisiert, dass sogar Denkmäler von Bismarck und anderen Kolonalisten ins „Happyland“ passen, in eine Welt, „in der Rassismus das Vergehen der Anderen ist“.11 „Happyland“ steht für eine Situation, in der – aus der Perspektive von weißen Menschen – der Rassismus für überwunden erklärt wird und weiße Menschen eine erfolgreiche antirassistische moralische Wiedergutwerdung für sich reklamieren (vgl. Max Czolleks Versöhnungstheater).

Persönlichkeiten der deutschen Aneignungs- und Ausbeutungsgeschichte wurden an prominenten Orten aufgestellt und werden bis heute – und heute wieder – gepflegt und herausgeputzt. Das trifft auf das große Bismarck-Denkmal in den Hamburger Wallanlagen ganz besonders zu und auch hier ist das multiple Er- und Entinnern seit mittlerweile Jahrzehnten umkämpft. Das Denkmal ist nicht zu übersehen: es steht auf einem Hügel an einer Hauptverkehrsachse der Innenstadt, ist mit massivem Sockel über dreißig Meter hoch, die Statue allein misst 14,8 Meter. Sogar von den Elbefähren und vom Balkon der Elbphilharmonie ist es zu sehen. Das Denkmal wurde 1906 als postumer Dank der Hamburger Wirtschaftselite an Bismarck aufgestellt – an den Finanzier der Hafenmodernisierung (Speicherstadt) und des Werftenwachstums (Flottenpolitik), den Bekämpfer der Arbeiter*innenbewegung (Sozialistengesetz), den Reichseiniger (Zollfreiheit) und den politischen Strategen des deutschen Kolonialismus (Afrika-Konferenz), der die Reeder, Kolonialhändler und Bankiers der Hansestadt reich gemacht hat. Dargestellt ist Bismarck als Rolandsfigur, die die Unabhängigkeit und Wehrhaftigkeit der Stadt symbolisiert und gerahmt ist von Reichsadlern. Im Innern des Denkmalsockels sind Bismarck-Sprüche und ein von den Nazis in den 1930er Jahren ergänztes Hakenkreuz und Eichenlaub erhalten und wurden im Rahmen der Denkmalsanierung für 32.000 € konserviert.

Das Hamburger Bismarck-Denkmal ist mehr als eine Statue im öffentlichen Raum. Mit dessen Sturz würde auch eine städtische Landmarke zerstört, die für eine politische Autorität, Ideologie oder Doktrin steht. In diesem Sinne stellen Statuen, Siegessäulen und Triumphtore eine Form der politischen Ikonographie dar – sie sind Ausdruck des Wunsches lokaler und nationaler Regierungen und Eliten, ihre politische Macht zu behaupten und eine soziale Ordnung und Hierarchie zu schaffen und unverrückbar in Stein zu meißeln. Zerstört werden bei einem Denkmalsturz also die „Ikonen“ und die mit ihnen verbundenen Werte. Dieser Akt ist so alt, wie es politische Umbrüche sind und hat oft Imperialistenstatuen getroffen. Die Beseitigung von Denkmälern aus dem öffentlichen Raum dient als symbolisches Zeichen der politischen Entmachtung konkreter Ordnungs- und Hierarchiesysteme. So weit soll es mit dem deutschen Reichskanzler und Mitverantwortlichen des Kolonialismus, rassistischer Unterdrückung und Ausbeutung nach dem Willen der politisch Mächtigen in der Stadt nicht kommen.

Hamburger Abendblatt, 28.6.2020, Foto von der Demonstration gegen die Sanierung des Bismarck-Denkmals. 

Wie soll man mit so viel riesiger Protzigkeit zeitgemäß umgehen? Welche Bedeutung hat das Bismarckdenkmal im Kontext postkolonialer Denkmalstürze? Entinnerung und Erinnerung an kolonialrassistische Herrschaft, Verdrängung, Relativierung, Widerstand, Heilung und Traumata kolonialer Ausbeutung sind permanent nebeneinander wirksam – für diejenigen, für die es bspw. aufgrund von rassifizierten Zuordnungen schon immer ein Thema war, sowie für diejenigen, die sich nicht oder erst jetzt damit beschäftigen wollen.

Das Denkmal hat verschiedene Phasen der Aufmerksamkeit erlebt. Sozialdemokratische Regierungen haben es bewusst vernachlässigt (späte Rache für das Sozialistengesetz): der Sockel hatte Risse und viel Graffiti bekommen und die hohen Bäume haben es fast verdeckt. Während der Schwarz-Schill-Regierung haben sich am Denkmal auch mal Nazis zum Aufmarsch getroffen. Erst mit der schwarz-grünen Regierung, die doch eigentlich beschlossen hatte Hamburg zu dekolonialisieren, wurde der Sandsteinkoloss 2020/21 für neun Millionen Euro aus Bundesmitteln gekärchert, der Sockel saniert und die Bäume gestutzt. Seitdem brodelt eine multidirektionale Erinnerungsdebatte mit intersektionalen Perspektiven und Affekten. Die Empörung über das Herausputzen des Denkmals ist groß; während gleichzeitig in Bristol das Colston-Denkmal im Hafenbecken versenkt wurde, wurde Bismarck neue Sichtbarkeit verliehen. Antifaschist*innen, Antirassist*innen, Antikolonialist*innen entladen ihren Protest gegen das neue Zurschaustellen des Denkmals und die hegemoniale Erinnerungskultur einer weißen postkolonialen Gesellschaft mit Demonstrationen und Performances rund um das Denkmal und bei Diskussionsveranstaltungen. In kurzer Zeit haben sich im Sommer 2020 die Initiativen „Intervention Bismarck-Denkmal Hamburg“, „Decolonize Bismarck“ und „Critical Neighbours“ zum Protest gegen das sanierte Denkmal gegründet und zusammen mit dem „Arbeitskreis Hamburg Postkolonial“ Forderungen zur künstlerischen Bearbeitung des Denkmals und zum Stopp der Sanierungsarbeiten formuliert. Sie betonten zur Begründung, dass Bismarck Kolonialpolitiker und Antidemokrat gewesen ist.

Moderiert und auf diesem Wege dominiert wird die Erinnerungsdebatte rund um das Bismarckdenkmal von der Hamburger Kulturbehörde, die nach (!) Abschluss der Sanierung eine kritische Kontextualisierung des Denkmals verspricht. Hamburgs Kultursenator redet von einem notwendigen „Störgefühl“ zum Thema Kolonialismus und sozialer Gerechtigkeit, das durch eine künstlerische Intervention am Denkmal erzeugt werden soll, allerdings ohne dieses dabei zu verändern. Dafür hatte die Kulturbehörde 2022 unter dem Motto „Bismarck neu denken“ für 250.000 Euro einen offenen, internationalen Wettbewerb ausgerufen, der zu keinem prämierten Entwurf führte. Diese Politik zeigt die Praxis der Einhegung eines antirassistischen, antifaschistischen und antikolonialen Protestes durch staatliche Institutionen. Die nationale Heroisierung der personifizierten Kolonialherrschaft sowie die materielle Kontinuität der Gedenkorte des Kolonialismus bleiben im Grunde unberührt. Im öffentlichen Raum sind von Wettbewerb und Diskussion keine materiellen Spuren zu finden – und aus den vielen unterschiedlichen Blickrichtungen thront Bismarck weiterhin hoch über der Stadt.

Die Forderung nach einer Dekolonisierung Hamburgs ging von sozialen Bewegungen und der PoC Community aus und wurde von der Partei Die Grünen aufgegriffen, die eine Finanzierung eines Erinnerungskonzeptes in der Hamburgischen Bürgerschaft erwirkt hat. Seitdem ist die Umgestaltung und Kontextualisierung von Kolonialdenkmälern zu einer top down gesteuerten Angelegenheit von weiß-dominierten Wissenschafts-, Kultur und politischen Eliten geworden. Zentrale Institutionen der Erinnerungsgestaltung sind die Kulturbehörde mit Senator Carsten Brosda, die neu eingerichtete Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe von Professor Jürgen Zimmerer und die Stiftung Historische Museen Hamburg mit Alleinvorstand und Direktor Dr. Hans-Jörg Czech. Neben Carsten, Jürgen und Hans-Jörg bleibt für People of Color und dem seit zwanzig Jahren aktiven Arbeitskreis Hamburg Postkolonial nur noch der Katzentisch.

Das Vergessen bzw. aktive Entinnern von historischem Unrecht ist ein machtvolles Mittel zur Bewahrung von Vorherrschaft und zur Fortschreibung rassifizierter Ungerechtigkeitsverhältnisse. Die Konfrontation mit kolonialer Ausbeutungsgeschichte führt bei vielen weißen Menschen zu reflexhaften Strategien der Abwehr. Diese haben auch in Deutschland verschiedene Formen: zeitliches Distanzieren („Kolonialismus ist lange her“), räumliches Relativieren („Die Kolonien waren weit weg“ oder „Die Kolonien waren sehr klein im Vergleich zum britischen Kolonialreich“), generationales Verdrängen („Ich bin nicht dabei gewesen“) und das Anzweifeln von Evidenz („Kaufmänner unserer Stadt waren nicht am Versklavungshandel beteiligt“). Noa K. Ha zeigt, dass durch solche Distanzierungen der Widerspruch zwischen einem idealisierten europäischen Selbstbild und dem Wissen um die von Europa ausgehende koloniale Gewalt aufgelöst wird.12 Das Erinnertwerden an koloniale Gewalt schafft Unbehagen und oft Wut und Verzweiflung sowohl bei Nachfahren kolonisierter Menschen als auch oft bei den Nachfahren – und oft auch Erb*innen – der Profiteur*innen kolonialer Ausbeutung. Diese reagieren jedoch meistens mit einem Schuldabwehrreflex, der eine kooperative, integrative und multidirektionale Erinnerung verhindert.

Die Künstlerin, Aktivistin und Historikerin Hanni Jokinen schlägt in ihrem mitherausgegebenen Buch „Stand und Fall“ als aufrüttelnden Erinnerungsort einen Park Postkolonial vor.13 Dort könnten alle in Hamburg abgeräumten Kolonialdenkmäler (und die noch abzuräumenden) aufgetürmt und begehbar werden und könnten eine neue Erinnerungspraxis ohne Unantastbarkeit von Denkmälern und damit eine Rekonstruktion des Erinnerns ermöglicht werden.

“Tear down this shit”: Koloniales Gedenken (gegen-)kartieren

Die Künstler*innenkollektive Peng! und Zoff haben im Juni 2020 ein Kartierungsprojekt als Instrument antikolonialen Protestes und aktiver Dekolonialisierung im Internet veröffentlicht. Ihre interaktive Deutschlandkarte unter dem Titel „Tear down this shit – Deutschlandweite Karte von kolonialen Spuren im öffentlichen Raum“ verzeichnete über hundert Straßen, Plätze und Denkmäler, die Personen ehren, die während der deutschen Kolonialzeit rassistische Verbrechen verübt oder politisch ermöglicht haben. In der partizipativ-interaktiven Online-Karte, konnten Nutzer*innen zusätzliche koloniale Erinnerungsorte mit Informationen eintragen. Mitinitiiert wurde dieses Kartierungsprojekt vom Verein Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) im Zuge der weltweiten Black-Lives-Matter Proteste nach dem rassistischen Mord an Georg Floyd am 25. Mai 2020.

Die Initiator*innen haben mit dem Instrument der Kartierung gewaltverherrlichender kolonialer Erinnerungsorte eine kritische Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Rassismus in Deutschland vorangebracht. Erinnerungsorte konnten als Protestorte markiert und Platz für ein dekoloniales Erinnern geschaffen werden. Simone Dede Ayivi sagte als ISD-Mitglied in einem Interview mit der Tageszeitung „taz“ am 25. Juni 2020 zur Veröffentlichung der Kartierung: „Wenn wir eine antirassistische Gesellschaft wollen, müssen wir fragen, wer sind die Opfer, die wir ehren wollen? Ein leerer Sockel ist ein guter Schritt, um das herauszufinden. Über diese Leerstellen sollen breite Diskussionen geführt werden. Dann kann man etwa Künstler*innen vom afrikanischen Kontinent einladen, die Plätze, auf denen bislang Kolonialisten gedacht wurde, neu zu gestalten.“

Sowohl die interaktive Karte als auch die Internetseite TearThisDown.com sind nicht mehr abrufbar, seitdem die deutsche Bundesstaatsanwaltschaft in der Aktion eine Aufforderung zu Straftaten erkannt hat und am 15. Juli 2021 Privatwohnungen und Büroräume der Künstler*innenkollektive durchsuchen ließ. Was für eine Gefahr für die Allgemeinheit geht von einer Kartierung kolonialer Erinnerungsorte aus? Diese Passage auf der Webseite – zitiert in Netzpolitik – hält die Staatsanwaltschaft für kriminell, da Aufruf zu einer Straftat: „Wer wird da eigentlich wofür geehrt? Verbrecher für Verbrechen, das geht nicht! Kopf ab, Runter vom Sockel, Farbe drauf, Schild drüber – die Möglichkeiten sind vielfältig. Aber markieren reicht nicht, wir suchen andere Formen. Vieles kann ein Denkmal sein und im Zweifelsfall macht es sich im Wasser treibend auch ganz gut.“

Der Durchsuchungsbeschluss bringt die interaktive Karte mit Sachbeschädigungen an sieben Denkmälern in Berlin in Zusammenhang. Die unbekannten Täter*innen hätten teilweise auf die Internetseite verwiesen. Die Ermittlungsbehörden sehen die Künstler*innenkollektive in der Verantwortung. Die Bewusstmachung des Entinnerns kolonialer Gewalt und die Lokalisierung physischer Orte dieses Entinnerns werden als Aufruf zu Protest gegen deren Existenz verstanden und kriminalisiert.

In England war kurz vorher eine ähnliche online-Kartierung veröffentlicht worden, die noch abrufbar ist: „Topple the racist. A crowdsourced map of UK statues and monuments that celebrate slavery and racism”. Die Kartierung wurde inspiriert durch die direkte Aktion gegen das Colston-Denkmal im Juni 2020 in Bristol.

Leerstelle verankern: Entinnerung sichtbar machen

Wenn so vieles fallen muss, was soll dann stattdessen stehen? Das Entinnerte braucht einen Platz im kollektiven Gedächtnis und im öffentlichen Raum. In kolonisierten Ländern werden gesellschaftliche Transformationen und revolutionäre Brüche durch die Ehrung von Held*innen des antikolonialen Widerstands durch Versklavte, Arbeiter*innen, Bauern und Landarbeiter*innen erinnert, wie die Haitianische Revolution und andere Aufstände und Revolten in der Karibik, sowie in Afrika, Asien und den Amerikas (siehe “ReMIX. Africa in Translation” von Nadja Ofuatey-Alazard).

An koloniale Ausbeutung und Widerstand wird auch an ein paar Orten in kolonialen Zentren erinnert. Immer auf Initiative antikolonialer Gruppen. Das trifft auch auf Flensburg zu, wo wir leben und an der Europa-Universität arbeiten. Flensburg hat sich überlagernde nationale Kolonialgeschichten aufzuarbeiten: bis 1864 als Teil des dänischen Kolonialreichs und damit drittgrößte Hafenstadt und Profiteur von Zuckerrohrplantagen und später als Teil des deutschen Kolonialreichs in der Kaiserzeit. Außerdem hat die Stadt bis in die 1960er Jahre durch den Import von Roh-Rum von seinen Verbindungen zum britischen Kolonialismus profitiert und von Flensburg aus sind über Rum-Werbung kolonialrassistische Bilder und Diskurse über Schwarze Menschen in der BRD verbreitet worden.14 Flensburg ist eine von etlichen europäischen Hafenstädten mit verdichteter Materialität kolonialer Infrastrukturen. Die Stadtstruktur ist bis heute geprägt von Lagerhäusern und Zuckerraffinerien. Hafenstädte sind besondere Orte der Erinnerungskultur, als Orte der Kontinuität globaler Verbindungen basierend auf kolonialen Machtverhältnissen und Ressourcenströmen. Sie sind Kontaktzonen von Rohstoffen, Waren, Menschen und Ideen, Orte zwischenmenschlicher Beziehungen von Menschen unterschiedlicher postkolonialer Herkünfte und Verbundenheiten, die dort ihr Zusammenleben gestalten.

Einen temporären öffentlichen Ort postkolonialer Auseinandersetzung hat im Juli 2019 das Freie Theater Pilkentafel in Flensburg mit dem Titel „Leerstelle verankern“ geschaffen. Die Abwesenheit eines Gedenkortes für die Flensburger Kolonial/Plantagen/Versklavungsgeschichte sollte als Leerstelle sichtbar werden. Das sollte Platz schaffen für eine Gegenerzählung und die Leerstelle als solche provisorisch markieren und der Forderung nach einem Denkmal für die versklavten Menschen auf den westindischen Inseln Nachdruck verleihen. Für drei Wochen wurde in der Flensburger Förde, direkt im Zentrum der Stadt, ein weißer, quadratischer Ponton verankert und in einer täglichen Performance geputzt. Begleitet von einem Logbuch der Ereignisse und Debatten rund um diese Leerstelle Flensburger Kolonialerinnerung. Das öffentliche Performance-Projekt ist Teil der Entstehung des Netzwerks Flensburg Postkolonial, dessen Mitglieder auch ohne Denkmal mittels Stadtrundgängen, Diskussionsveranstaltungen und Publikationen Gegenerzählungen praktizieren.

Foto aus der Videodokumentation der Abschlussveranstaltung von „Leerstelle verankern“ am 19.7.2019 mit Redebeiträgen vom Theater Pilkentafel, dem Stadtpräsidenten und den Autorinnen dieses Beitrags

„I am Queen Mary“-Kunstprojekt: Denkmal antikolonialer Kämpfe

In welcher Form lassen sich vielschichtige koloniale Verflechtungen, Gewaltverhältnisse und Widerstandsformen im öffentlichen Raum sichtbar machen? Kunstprojekte und Denkmäler mit kolonialen Bezügen haben immer wieder Impulse für gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu diesen Fragen geliefert. Das Denkmal „I am Queen Mary“ ist eine visuell, materielle, monumentale Gegenerzählung zur Herrschaftsgeschichte der Kolonialmächte und stellt eine weitere Facette der Diskussionen um Denkmäler und Denkmalstürze der letzten Jahre dar. 

Das Kunstprojekt I am Queen Mary ist eine exemplarische öffentliche, ortsgebundene Intervention und trägt in besonderer Weise zur Sichtbarkeit und Reflexion kolonialer Verflechtungen bei. Die beiden kollaborativ arbeitenden Künstlerinnen La Vaughn Belle (eine multidisziplinäre, bildende Künstlerin, die auf den U.S. Virgin Islands lebt und arbeitet) und Jeanette Ehlers (Video-, Foto- und Performance-Künstlerin aus Dänemark mit karibischen Wurzeln) haben eine Statue der afro-karibischen Widerstandsanführerin Queen Mary erschaffen und im März 2018 in Kopenhagen vor dem Westindienspeicher aufgestellt. In dem historischen Speicher befanden sich die Büros und Lagerräume der Dänischen Westindien-Kompanie, welche die dänische Plantagenökonomie mit dem Anbau, dem Handel und der Vermarktung des karibischen Zuckerrohrs organisiert hat. Der Standort befindet sich an einer beliebten touristischen Flaniermeile von der Innenstadt zur berühmtesten Statue Kopenhagens, der Kleinen Meerjungfrau, die das freundliche Gesicht Dänemarks zeigt. Der Weg wird nun vom Kolonialismus unterbrochen, wenn man denn hinschaut.

Einweihung der „I am Queen Mary“-Statue im März 2018, Foto aus dem Fundraising Campaign Video.

Die historische Queen Mary Thomas ist neben Axeline (Agnes) Elizabeth Salomon, Matilda McBean und Susanna (Bottom Belly) Abrahamsson eine der vier Anführerinnen eines wochenlangen Arbeiterinnenaufstandes auf St. Croix, der am 1. Oktober 1878 begann und bei dem Schwarze Plantagenarbeiter*innen gegen die dort vorherrschenden furchtbaren Arbeitsbedingungen protestierten. Auf den ehemals dänisch kolonisierten Karibikinseln gibt es eine lebhafte Erinnerungskultur an die sogenannten „Fireburn Queens“, in Dänemark wird dagegen ähnlich wie in England bevorzugt an die Abschaffung der Versklavung erinnert – und damit suggeriert, dass nach dem formalen Ende der Sklaverei als raum-zeitlich eingeschlossener Periode, die Situation der befreiten Arbeiter*innen sofort fundamental verbessert worden sei. Weiter- und Nachwirkungen der Sklaverei sowie die (Neu)Formierung von rassistischen Strukturen in der Postversklavungsgesellschaft kommen in diesen Erinnerungen nicht vor.

Die Platzierung der sitzenden Figur verweist auf die ikonische Fotografie von Huey P. Newton, einem der Gründer der Black Panther Partei in den USA. Damit nimmt die Statue das global verbreitete visuelle Gedächtnis eines Schwarzen Widerstands auf und sorgt damit für eine transnationale Lesbarkeit des Kunstprojekts. Auch das „I-Am“-Motiv des Kunstprojekts verweist auf weltweite Protestbewegungen gegen Polizeigewalt und lädt gleichzeitig zur Identifikation mit der antikolonialen, widerständigen Heldin ein. Erinnern an koloniale Unterdrückung und Widerstand durch multiple Re-Enactments, die gleichzeitig eine visuell monumentale Gegenerzählung zur Herrschaftsgeschichte der Kolonialmächte erschafft. Das Denkmal besteht aus der Figur und einem Sockel. Den Sockel zieren gewaschene Korallensteine aus St. Croix (von 1733 bis 1917 dänisches Kolonialgebiet). Die Skulptur ist aus digitalen 3D-Körperscans der beiden Künstlerinnen in sitzender Position zusammengefügt worden. Die beiden Künstlerinnen beschreiben ihre Motivation in ihrem Fundraising Video vom August 2021 so: „We are on a mission to change, who’s story is got to be told in public space”.

Mittlerweile ist die temporäre und nicht dauerhaft wetterresistente Statue wieder abgebaut und soll durch eine Bronzestatue ersetzt werden. Nicht die Stadt Kopenhagen kümmert sich um die Finanzierung, sondern die beiden Künstlerinnen mit einem crowd funding. Vor Ort kann derweil die Statue mittels einer AR-App auf dem eigenen digitalen Endgerät betrachtet werden (Ausführliche Beschreibung des Denkmals von Inken Carstensen-Egwuom hier unter „Leseprobe“)

Augmented Reality-Foto von “I am Queen Mary” mit den Autorinnen, 28. April 2023, © U. Bergermann

Kolonialität abräumen?!

Wie weit trägt es zur Dekolonisierung der Städte und Gesellschaften in den Zentren des Kolonialismus bei, wenn Denkmäler für Rhodes, Colston und Bismarck abgeräumt und Denkmäler für Widerstandskämpfer*innen der kolonialen Ausbeutung und der Versklavungsökonomie aufgestellt werden? Symbolpolitik für Bewusstseinsbildung im öffentlichen Raum? Praktisch alle europäischen Städte sind mit ihrer Siedlungsstruktur und ihren Bildungsinstitutionen Denkmäler – als lebendige Archive – des Kolonialismus. Koloniale Strukturen durchdringen jeden Teil der Stadt, von den Ortsnamen über die Architektur und die Raumnutzung bis hin zur Organisation der städtischen Behörden. Wenn es darum geht, die Schäden von Sklaverei und Kolonialismus zu beseitigen, geht es auch um restorative, wiederherstellende Gerechtigkeit, die Zusammenarbeit und Heilung impliziert.

Einen möglichen Weg hat die Universität Glasgow 2019 als erste britische Universität mit einem Forschungsförderprogramm zur Wiedergutmachung gestartet und 20 Millionen Pfund für den Aufbau eines Forschungszentrums in Partnerschaft mit der University of the West Indies bereitgestellt, das die öffentliche Gesundheit und das Wirtschaftswachstum in der Karibik sowie die Beziehungen zwischen karibischen und afrikanischen Ländern untersuchen soll. Diejenigen, die am meisten unter der Brutalität der Sklaverei und des Kolonialismus gelitten haben, sollen die Agenda der wiederherstellenden Gerechtigkeit bestimmen. Dies erfordert, dass weiße Bildungs-, Kultur- und Verwaltungsinstitutionen die Kontrolle über Dekolonisierungsprozesse aufgeben und Gestaltungsmacht teilen.

Kolonialismus ist kein Thema der Vergangenheit. Die Repräsentation kolonialistischer Subjekte ist ein Ausdruck von strukturellem Rassismus der Gegenwart. Francoise Vergès warnt davor, koloniale Gewaltverhältnisse als inzwischen überwunden und als außerhalb dessen zu verstehen, was europäische Gesellschaften ausmache.15 Koloniale Erinnerungsorte als historisch und gleichzeitig gegenwärtig zu verstehen ist eine schwierige Aufgabe. Gegenerzählungen zur Herrschaftsgeschichte der Kolonialmächte, sind eingebettet in Diskussionen um Erinnern, Verdrängen und Protest, die in unterschiedlichen räumlichen Kontexten verortet sind. Wir nennen das in unserem Sammelband „Geographien der Kolonialität“16 und haben sehr viel von den Diskussionen mit Ulrike Bergermann gelernt. Als „Geographien“ verstehen wir sowohl soziale Räume (Herrschaftswissen und dekoloniales Wissen produzierende politische Institutionen, Bildungsstätten, Museen) und physisch-materielle Räume (kolonial geprägte Landschaften, Plantagen, Orte des Rohstoffabbaus und Warenumschlags) als auch sozial und politisch produzierte Räume (Territorien des Siedlerkolonialismus und postkoloniale Nationalstaaten). Diese Geographien der Kolonialität verbinden den Blick auf ein koloniales Erbe und eine sozialräumliche Analyse rassistischer Strukturen (post)kolonialer Gegenwart.

Kolonialdenkmäler markieren einen „colonial sense of place“. Im Sinne von Massey sollte eine Gegenerzählung nicht zu erneutem Lokalismus mit antikolonialem Anspruch führen, sondern zu einer kritischen Verortung im Kontext globaler Verflechtungen unterschiedlicher antikolonialer Kämpfe. Damit spricht sie von Orten als konstruiert durch Artikulationen globaler sozialer Verhältnisse und einer langen Geschichte der Wechselwirkungen mit anderen Orten („the history of the global construction of the local“).17 In diesem Sinne stellen ortsbasierte dekoloniale Projekte mehr als nur Protest gegen eine lokale Erinnerungspolitik dar, sondern wenden sich immer auch gegen globale und lokale Politiken aktueller (Re)Produktion von Ungleichheit.


  1. Mirzoeff, Nicholas 2023: White Sight. Visual Politics and Practices of Whiteness. MIT Press, S. 15
  2. Bergermann, Ulrike 2024: Kakaogeschmack. Koloniale Ästhetik und kollektive Taste Tanks. August-Verlag
  3. Auma, Maisha M./Kinder, Katja/Piesche, Peggy 2021: Kontrapunktische Studien zu Schwarzsein und Schwarzem Europa. In: Femina Politica 30(2), S. 107
  4. Stoler, Ann Laura 2011: Colonial Aphasia: Race and Disabled Histories in France. In: Public Culture 23 (1), S. 121–156
  5. Ahmed, A. Kayum 2020: #RhodesMustFall: How a Decolonial Student Movement in the Global South Inspired Epistemic Disobedience at the University of Oxford. In: African Studies Review 63 (2), S. 281–303
  6. Fanon, Frantz 1981: Die Verdammten dieser Erde. Suhrkamp, S. 51f.
  7. Frank, Sybille und Mirjana Ristic 2020: Urban fallism. Monuments, iconoclasm and activism. In: City 24: 3/4: 552-564
  8. Ntshingila, Omhle; Ndebele, Richard; Monageng, Virginia 2016: #OutsourcingMustFall through the eyes of workers. In: Susan Booysen (Hg.): Fees must fall. Student revolt, decolonisation and governance in South Africa. Johannesburg: Wits University Press, S. 87–100
  9. Ahmed, A. Kayum 2020: #RhodesMustFall: How a Decolonial Student Movement in the Global South Inspired Epistemic Disobedience at the University of Oxford. In: African Studies Review 63 (2), S. 281–303
  10. hooks, bell 1989: Choosing the Margin as a Space of Radical Openness. In: Framework: The Journal of Cinema and Media 36, S. 15–23
  11. Ogette, Tupoka 2018: exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen. Unrast, S. 21
  12. Ha, Noa/Picker, Giovanni 2022: European Cities. Modernity, Race and Colonialism. Manchester University Press
  13. Jokinen, Hannimari; Manase, Flower; Zeller, Joachim Hg., 2022: Stand und Fall. Das Wissmann-Denkmal zwischen kolonialer Weihestätte und postkolonialer Dekonstruktion. Metropol-Verlag
  14. Petersen, Marco L. Hg., 2018: Sonderjylland - Schleswig Kolonial. Syddansk Univorsitetforlag
  15. Vergès, Francoise 2020: Dekolonialer Feminismus, Wien: Passagen Verlag. S. 24
  16. Bauriedl, Sybille und Carstensen-Egwoum, Inken Hg. 2023: Geographien der Kolonialität. Transcript-Verlag
  17. Massey, Doreen, 1995: Places and their pasts. In: History Workshop Journal 39, S. 183