jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

Hinweis zur Nutzung

Protestperlen, die auf diesem Computer noch nicht besucht wurden, haben einen leuchtenden Schatten. Nach dem Besuch verschwindet der Schatten. So sind unbesuchte Protestperlen leicht visuell erkennen.
Der Speicher für besuchte Protestperlen kann über diesen Link zurückgesetzt werden. Danach leuchten wieder alle Perlen.

Kathrin Peters

Atrium, Iduna, Quadriga

Schwarz-Weiß-Fotografie eines Wohnblocks mit drei Hochhäusern
Iduna Hochhäuser am Bahnhof Braunschweig | IDUNA High rises © Heinrich Heidersberger/ARTUR IMAGES

Vom Braunschweiger Hauptbahnhof zur Hochschule für Bildende Künste geht es die Kurt-Schumacher-Straße herunter, vorbei an drei Hochhäusern, die auf einer Art Plateau stehend die Straße säumen. Schon vom Zug aus sind die aufgereihten Punkthochhäuser zu sehen, sie signalisieren, in einer Stadt anzukommen, die sich der Moderne verschrieben hat oder eher verschrieben hatte. Am Fuß der Iduna-Hochhäuser, die so heißen, weil der Versicherungskonzern sie in den 1960er Jahren aus Überschüssen finanziert hat, erstreckt sich eine Fußgängerzone mit einer Ladenzeile unter Laubengängen. Sie ist heute nicht mehr so einladend und zugänglich, wie sie geplant war.1 Einmal bin ich dort entlanggelaufen, Ladenlokale standen leer und auf den Sitzbänken saß niemand. Ich meine, die Bodenplatten machten Geräusche wie die auf der Fußgängerüberführung, über die die Ruhr-Universität Bochum von der U-Bahn aus zu erreichen ist. Aber das mag eine Überblendung sein. Die Architektur der späten 1960er, frühen 1970er Jahre hat an ästhetischer Wertschätzung eingebüßt, wenn ihr diese je zukam. Denn ungefähr in den Jahren, als die Punkthochhäuser fertig wurden, setzte sich die Vorliebe für verdichtete Urbanität, für Gründerzeitarchitektur und Altstädte durch.2

Ein Hotelbau, das Atrium-Hotel, riegelt die Iduna-Hochhäuser zum Bahnhof hin ab. Der Bahnhof war außerhalb des Stadtzentrums neu gebaut worden, das ging auf Planungen zum Wiederaufbau zurück, die bereits vor 1945 entwickelt worden waren und dem Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“ folgten.3 Ein Drehkreuz zwischen Ost und West sollte der Braunschweiger Bahnhof werden, breite Tangenten führen in alle Richtungen. Die Eröffnung des Hauptbahnhofs erfolgte noch kurz vor dem Mauerbau, danach war Braunschweig eine Stadt in der BRD nah der Grenze zur DDR.

Die Fotografie, die Hotel und Hochhäuser zeigt, arbeitet den Anspruch, nicht einfach Gebäude, sondern eine ganze Stadtlandschaft erbaut zu haben, ganz gut heraus. Die harten Kontraste und die leichte Aufsicht verleihen der Anlage etwas Abgehobenes. Im Hintergrund des Atrium-Hotels sind ein paar übriggebliebene Altbauten mit Giebeldächern zu sehen, die neben den durchbrochenen Waschbeton-Fassanden der Neubauten wie Miniaturen wirken. Links von der Straßenüberführung, die direkt zum Hotel führt und die es nicht mehr gibt, stehen ein paar Leute an der Bushaltestelle im hellen Sonnenlicht; es muss ein Frühjahrstag gewesen sein, die Bäume tragen noch kein Laub. Heutigen Blicke zeigt sich das Panorama – sowohl das städtebauliche als auch das fotografische Panorama –, als doch recht großspurig angelegtes Versprechen. Unübersehbar soll die irgendwie spacige, brutalistische Architektur Neuerung verkörpern, und wahrscheinlich ist das Foto wegen dieses Anspruchs, der sich in ihm artikuliert, aber uneingelöst blieb, ein wenig anrührend.

Schwarz-Weiß Fotografie: Blick in ein Hotelzimmer mit einer Person in weißem Bademantel, die an einem Tisch sitzt und liest
Atrium-Hotel © Heinrich Heidersberger/ARTUR IMAGES

Das Atrium-Hotel habe ich nie betreten. Das Foto eines der Hotelzimmer von 1970 zeigt eine schlichte Einrichtung mit glatten Oberflächen, die für die Neuordnung und Neuverortung der Bundesrepublik signifikant war. Das bezogene Bett und ein Sofa, das offenbar durch ein paar Handgriffe ein zweites Bett werden konnte, stehen eigentümlich hintereinander aufgereiht, der Platz ist begrenzt, aber funktional. Es gibt praktische Ablagen und einen Schreibtisch, an dem, auch das ein wiederkehrendes Motiv, eine weiblich gekennzeichnete Person sitzt, lesend oder blätternd, in einem weißen Kostüm. Schon die Moderne-Diskurse der 1920er Jahre hatten auf „die Frau als Schöpferin“ gesetzt,4 auf die Mutter und Ehefrau, die durch Arbeit im und an der Wohnung die Umgestaltung einer überdekorierten, dysfunktionalen, im Historischen verhafteten Gesellschaft leisten sollte. Ästhetische und politische Anliegen überlagern sich hier, das eine scheint in den Modernitätsdiskursen auf das andere abbildbar zu sein. Die Nachkriegsmoderne spielt dieses Motiv weiter durch, auch hier „die Frau“ als diejenige, die nationale Erneuerung ganz konkret mit der Einrichtung eines neuen Heims umsetzen könnte.5 Auf dem Foto stehen zwei Koffer bereit, nur ein Bett ist bezogen. Vielleicht zieht hier eine los?

Von der Altstadt, die sich nördlich an die Kurt-Schumacher-Straße anschließt, wurde in den 1950er Jahren wiederaufgebaut, was noch aufzubauen war, und durch zeitgenössische Elemente und Bauten ergänzt. Das war die Braunschweiger Lösung einer Auseinandersetzung, die um weitestgehende Rekonstruktion der zerstörten Altbauten einerseits oder Neubau samt städtebaulicher Neuordnung andererseits geführt wurde. Für den Römer in Frankfurt am Main, für Mainz, das zunächst als Radialstadt komplett neugebaut werden sollte, ähnlich wie Berlin, oder auch für Dresden wurden jeweils unterschiedliche, mühsam errungene oder erstrittene Umsetzungen gefunden. Im Braunschweig wurden die Reste des Residenzschlosses 1960, als der Hauptbahnhof eröffnete, unter einigem Protest abgetragen. Wer braucht noch ein Schloss? 2004 wurde es samt Quadriga historisierend wiederaufgebaut. Am Ende haben die Altstadtfans die Auseinandersetzung für sich entschieden. Mit der Wiedererrichtung von längst Verschwundenem, das mehr oder eher weniger „kritisch“ rekonstruiert wird, können einige Städte nicht aufhören, Frankfurt am Main nicht, Berlin nicht. Ein Architekt, dem ganz anderes vorschwebt, kommunale, unabgeschlossene Wohnformen und infrastrukturelle Architekturen, erzählte mir kürzlich, dass es in Architektur-Jurys immer üblicher würde, sich unumwunden auf eine Urform oder Urnorm des „deutschen Hauses“ zu beziehen. Der Heimatstil, der sich gegen die Modernen positionierte und einzig lokal identifizierte Formen gelten ließ, hatte es bis weit in die Nachkriegszeit geschafft. Die brutalistischen Bauprojekte wollten ihn ganz entschieden hinter sich lassen. Er ist wieder da.

Die Hochhäuser am Bahnhof haben inzwischen einen „freundlichen“ Anstrich mit „Farbakzenten“ erhalten. Das Hotel gehört zur Mercure-Accor-Achat-Kette. Es hat ein loungeähnliches Interieur, die Fassade wurde weiß verblendet. Ein Einzelzimmer mit Frühstück kostet 193 Euro.6


  1. Architekturbüro KPS (Krämer, Pfenning, Sievert). Das Büro und insbesondere Krämer waren für den Wiederaufbau nicht nur Braunschweigs maßgeblich, siehe: Karin Wilhelm u.a. (Hg.): Gesetz und Freiheit. Der Architekt Friedrich Wilhelm Krämer (1907–1990), Berlin 2007.
  2. Siehe u. a. Wolf Jobst Siedler, Elisabeth Niggemeyer: Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum, Berlin 1964.
  3. Das lag auch daran, dass Johannes Göderitz, einer der Autoren von Die gegliederte und aufgelockerte Stadt 1945 Stadtbaurat in Braunschweig wurde. Johannes Göderitz, Roland Rainer, Hubert Hoffmann: Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957, sollte bereits 1945 erscheinen, wurde dann ohne nationalsozialistische Bezüge später veröffentlicht.
  4. Bruno Taut: Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin, Berlin 2001 (Reprint der Originalausgabe von 1928)
  5. Siehe Johanna Hartmann: Richtig Wohnen im Wiederaufbau! Ausstellungen, Ratgeber und Filme als Wohnlernmedien in der frühen Bundesrepublik Deutschland (Dissertationsschrift Univ. Bremen 2020).
  6. Siehe booking.com, 15.11.2023.