jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

Hinweis zur Nutzung

Protestperlen, die auf diesem Computer noch nicht besucht wurden, haben einen leuchtenden Schatten. Nach dem Besuch verschwindet der Schatten. So sind unbesuchte Protestperlen leicht visuell erkennen.
Der Speicher für besuchte Protestperlen kann über diesen Link zurückgesetzt werden. Danach leuchten wieder alle Perlen.

Christine Krischan Hanke

dinomite!1

Unerwartete Wendungen: Queere und antifaschistische Dinos

Foto eines Dioramas mit einem lebensgroßen T-Rex, der mit blutigem Gebiss vor einem soeben erlegten Beute-Saurier posiert.
Foto eines Dioramas mit einer T-Rex aus Untersicht, der vor einem soeben erlegten Beute-Saurier steht und das blutige Maul mit spitzen Zähnen brüllend öffnet.
Display im Natural History Museum London Kensignton 2002

Dinosaurier spielen schon in meiner ersten Begegnung mit Ulrike Bergermann eine Rolle – wir lernten uns 2002 bei der Tagung "Rasterfahndungen: Mediale und normative Konstruktionen von Krankheit" an der Uni Greifswald kennen.2 Es gab gleich Verbindungslinien und Anschlusspunkte zwischen unseren Forschungsinteressen und ich erinnere mich besonders gut daran, wie ermutigend ich Ulrikes wertschätzende Kommentierung meines Vortrages empfand, in dem ich erste Ergebnisse aus dem Kontext meiner Dissertation zur Diskussion stellte.

In meiner Erinnerung haben wir schon bei diesem ersten Zusammentreffen über Dinosaurier und Ausstellungsdesigns naturhistorischer, anthropologischer und ethnologischer Museen gesprochen. Kurz vorher hatte ich das Natural History Museum in London besucht und war dort über ein bewegtes Diorama mit Sound-Effekten gestolpert, in dem ein animatronisch bewegter T-Rex3 mit blutigem Gebiss und mit Gebrüll vor einem soeben erlegten Beute-Saurier posiert – Anfänge der Eventisierung (nicht nur) naturhistorischer Museen und der immer engeren Verquickung von Science Education und Entertainment.4

In Reaktion auf paläontologische Debatten, die den T-Rex eher als Aasfresser denn als Predatoren beschrieben, konzipierte das Natural History Museum kurioserweise sein Display kurz danach um, machte aus dem erlegten Saurier ein schon halb verfallenes Aas und wischte die Blutspuren am T-Rex-Maul soweit wie möglich ab.5

Über unsere Besuchserfahrungen musealer Saurier-Displays tauschen wir uns seitdem aus, schicken uns gegenseitig Fotos sowie Kataloge, und andere schöne Dinge aus naturkundlichen Museumsshops, manchmal schaffen wir auch gemeinsame Besuche.

Foto eines schwarz-weißen Werbeplakats am U-Bahnhof, auf dem ein riesiges spitzes Knochenstück zu sehen ist. Darüber liegt ein weißfarbener Text: You wonder what is out there, what even exists.
Farbfoto mit dem einem riesigen Dinosaurier-Skelett aus Untersicht, darüber die Stahl-Glas-Deckenkonstruktion des Berliner Naturkundemuseums.
Farbfoto eines aufrecht auf zwei Beinen stehenden Dinosaurier-Skeletts vor einem Wandbild mit gemalten Sauriern.
Oben: Werbung für die Ausstellung "Tristan - Berlin zeigt Zähne" am Bahnhof der U-Bahnlinie U6 Naturkundemuseum in Berlin 2017, unten links: Naturkundemuseum Berlin 2018, rechts: Naturkundemuseum Kassel 2022 (zur documenta fifteen)

Neue, spektakuläre Medialisierungen des Sauriers waren – als wir uns kennenlernten – auch im Fernsehen zu beobachten gewesen und bestimmt haben wir in den Pausen der Greifswalder Tagung auch hierüber gesprochen: 1999 begann die BBC mit Walking With Dinosaurs,6 einer naturhistorischen Kinosaurier-Serie, in der CGI animierte Dinosaurier-Bilder in fotografische Bewegtbilder natürlicher Habitate eingefügt wurden. Während die ersten Filme noch eine Natur-dokumentierende Kamera und die Autorität eines Off-Screen-Erzählers einsetzten, fügten die Spin Offs The Giant Claw: A 'Walking With Dinosaurs‘ Special (2002) und Sea Monsters: A ‚Walking With Dinosaurs' Trilogy (2003) mit Nigel Marvin einen On-Screen-Forscher ein, den wir Zuschauende auf seinen – eigens für uns unternommenen – abenteuerlichen Reisen in prähistorische Zeiten begleiten. Die Konjunktur dieses paradoxalen Genres von 'Dinosaurier-Spektakel-Dokus' spitzte die Fäden einer langen Filmgeschichte des Kinosauriers, in der ausgestorbene Tiere zum Leben erweckt werden (zu einem spektakulär-realistisch erscheinenden Leben) um als menschliche Projektionsflächen zu agieren, auf unvorhergesehene Weise in dokumentarisch agierenden Formaten zu.7

Standbild aus einem Zeichentrickfilm: Ein gezeichneter Saurier hat den Kopf nach links gewendet, von wo aus ihn ein Mammut aus einem See heraus mit seinem Rüssel mit Wasser bespritzt. Der Wasserstrahl prallt in einem sternförmigen Linienkranz am Kopf des Sauriers ab.
Still aus dem allerersten Dinosaurier-Film der Filmgeschichte: Gertie, the Dinosaur (USA 1914, Winsor McCay)

Am museal wie filmisch ausgestellten Saurier kulminierte ein Kreuzungspunkt unserer Interessen an den Schnittstellen von Wissenschaftsgeschichte und Populärkultur. Seit 2002 haben wir unzählige Dinosaurier-Medien, Bilder, Fachliteratur, Filme, Zeitungsartikel, Seminarpläne, Social Media Posts und viele weitere Hinweise ausgetauscht und geteilt. Gemeinsam waren wir im wissenschaftlichen Beirat zur Ausstellung "Kinosaurier" des Landeskundemuseums Hannover (2020/21), haben dabei eine Dimension des Ausstellungsmachens und des Comic-Machens aus der Nähe kulturwissenschaftlich kommentiert und über die Populärkultur-Begeisterung der anwesenden Paläontologen geschmunzelt.

Beim Workshop "Politics of Natural History. How to Decolonize the Natural History Museum?" in Berlin (2018) haben wir uns gefreut, dass Fragen der Kolonialgeschichte endlich auch an die naturhistorischen Museen gestellt wurden.8 Mittlerweile wird auch die Aneignungsgeschichte der dortigen mineralischen Sammlung erforscht9 und so ergreifen kritische Reflektionen um Colonial Extractivism endlich auch auf naturhistorische Sammlungen über. In den USA nehmen Debatten um human remains in Naturkundemuseen an Fahrt auf und werfen Fragen zur Ausstellung von Indigenous Remains auf.10 Wie etwa an der chilenischen Rückgabeforderung zum sog. 'Copper Man' aus dem American Museum of Natural History (AMNH) zu erahnen ist, stehen nunmehr völlig zurecht auch die Ausstellung von menschlichen Schädeln und Knochen in paläoanthropologischen Displays zur Menschheitsgeschichte zur Disposition – aufgrund der oftmals kolonialen Aneignungsgeschichte und ihrer je spezifischen Bedeutungen in den Herkunftsgesellschaften.11

Auch wenn Dinosaurier und Mensch nie zur selben Zeit auf der Erde lebten,12 so verbinden sich im Blick auf den Dinosaurier doch Fragen der kolonialen Aneignung, Konzepte von Natur- und Menschheitsgeschichte, Paläontologie und Paläoanthropologie, aber auch intersektionale Fragen von race, class, gender, nation, history, time und space, von Kolonialismus und Kapitalismus…

Ulrike und ich haben Dinosaurier entsprechend in Seminaren und in Publikationen medienwissenschaftlich produktiv gemacht – ich um am Kinosaurier über den spezifischen Modus des spektakulären Bildes nachzudenken,13 Ulrike um an der Dinosaurierforschung Relationalitäten von Wissensgeschichte, Evolution und Kolonialismus zu untersuchen.14 Gemeinsam haben wir den für die Science and Technology Studies und Medienwissenschaft einflussreichen Text von Susan Leigh Star und James R. Griesemer kommentiert,15 in dem am Beispiel des interdisziplinären kooperativen Arbeitens im Umfeld des Museum of Vertebrate Zoology an der University of California, Berkeley, das Konzept der "Boundary Objects" entworfen wird.16

Farbfoto: von einem Ofen, auf dem zwei Saurierfiguren und zwei Postkarten mit Sauriern stehen, am Ofenrohr hängt eine bunte Flugsaurier-Figur.
Farbfoto von einem Holztisch, hinter dem Grünpflanzen stehen. Vorne auf dem Tisch steht eine halbvolle Tasse. Aus dem Tee schaut eine Saurierfigur heraus.
Dinos in meiner Bayreuther Wohnung

Neben der Denk-, Wissens- und Reflektionlust steht der Dino jedoch auch für unsere geteilte Lust am Schauen, Hören, Spielen, Tanzen – 'ungezwungene Zeit',17 die im Zuge unserer beruflichen Verpflichtungen immer schwieriger einzurichten ist. Anfangs haben wir bei unseren Treffen Dinosauriermodelle aus Gipseiern ausgebuddelt – haben wir da schon begonnen gelegentlich gemeinsam Whisky zu trinken? Den spektakulär in Beton eingegossenen Katalog zur Ausstellung "Tristan – Berlin zeigt Zähne" im Naturhistorischen Museum Berlin (2015-2020) mit seinen ästhetisierenden Schwarz-Weiß-Fotografien von Knochendetails und der poetisch daherkommenden Geschichte um die Ausgrabung und Zusammensetzung der Knochen18 hat dann jedoch jede von uns in ihrer eigenen Wohnung entlang der vorgesehene Bruchlinie aufgemeißelt,19 weil wir keine Zeit zum Treffen fanden – ausgetauscht haben wir stattdessen Fotos und Videos von der Aktion und zumindest in meiner Berliner Wohnung liegen hiervon noch Betonstücke herum. Und wenn mich zum Start in einen Bayreuther Arbeitstag der aus dem Tee auftauchende Dino anblickt – aus einer Lieblingstasse, die mir Ulrike geschenkt hat – erinnere ich mich wieder, dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht.

Wie erfreulich daher, im Zuge von Social Media-Funden und Online-Recherchen in den letzten Jahren vermehrt auf queere und auf antifaschistische Dinos zu stoßen.

Tweet von Natalia Jagielska mit einem Screenshot einer BBC-Sendung, in dem eine Person in Jackett, Hemd und Krawatte mit einem Stoff-Saurier auf dem Arm zu sehen ist. Jagielska schreibt dazu: I grew up watching BBC documentary programs, it’s the thing that inspired me to go into sciences. And now, two decades on, I am presenting one of the best British fossils in centuries, on the same channel. Unbelievable.
Natalia Jagielska @WryCritic auf Twitter, 22.2.2022

Queere Dinosaurier(forschung)

Im Februar 2022, als ich noch regelmäßig Twitter rezipierte, wurde mir ein Tweet in die Timeline gespült,20 in dem Natalia Jagielska einen BBC-Bericht teilt, in dem vom Fund des weltweit größten erhaltenen Pterosaurier-Fossils auf der schottischen Insel Skye berichtet wird.21 Wenn Jagielska in obigem Tweet schreibt "I grew up watching BBC documentary programs […] And now, two decades on […]", so liegt nahe, dass Jagielska just mit den oben genannten spektakulären Dino-Dokus aufgewachsen ist, die in der Anfangszeit meiner Dinofreundschaft mit Ulrike stehen – next generation(s). Im verlinkten BBC-Bericht präsentiert die offen queere22 Paläontologie-Doktorand*in von der University of Edinburgh mit breitem Lachen ein lokal produziertes Stofftier, das auf der Grundlage ihrer Forschungen und Visualisierungen modelliert wurde, und erläutert hieran die Besonderheiten des Dearc sgiathanach (ausgesprochen Jark Ski-an-Ach) benannten Fundes, der mittlerweile der Sammlung der National Museums Scotland hinzugefügt wurde.23 Jagielska erforschte den Fund und entwarf – als gleichzeitige Palaeoartist – eine Reihe von Zeichnungen, zentrale Forschungsergebnisse sind in einem Artikel der renommierten Fachzeitschrift Current Biology publiziert, deren Cover eine der Zeichnungen von Jagielska schmückt.24

Gemaltes Bild in orange- und grünfarbenen Tönen, das eine felsige Wüstenlandschaft zeigt, an deren wollkigem Himmel Flugsaurier ihre Runden drehen. Über dem Bild liegt Orange-farben der Titel der Zeitschrift: Current biology mit Angabe der Ausgabe.
Cover der Fachzeitschrift Current Biology 32 (6), 28 March 2022
Seite aus einer Fachzeitschrift mit einem Schwarz-Weiß-Foto des Knochenfundes, mehreren farbigen wissenschaftlichen Zeichnungen und erläuternden Texten, u.a. ein Größenvergleich mit einer menschlichen Figur, in der die Spannbreite des Sauriers die Größe der menschlichen Figur knapp übertrifft.
Visualisierung aus Natalia Jagielska et al: A skeleton from the Middle Jurassic of Scotland illuminates an earlier origin of large pterosaurs in Current Biology 32 (6) 2022

In Jagielskas Social Media Posts25 finden sich Kommentare zu Paläontologie und zu Palaeoart, Reisefotos mit dem Stoffmodel an allerlei Orten, ein spannender Thread zur Paläontologie im von NS-Deutschland besetzten Polen,26 zu paläontologischen Stock-Bildern (s.u.), die mit Ulrikes neuestem Text zu den kolonialen white male-Narrationen der Dinosaurier-Forschung in Resonanz stehen,27 und viele eigene Zeichnungen und Illustrationen.

Tweet von Natalia Jagielska mit vier Stock-Bildern - zwei davon sind Fotos, zwei sind Zeichnungen. Die vier Bilder zeigen stark stereotypisierte Szenen von Ausgrabungsarbeiten. Jagielska beschreibt und kommentier die Bilder wie folgt: Disappointing, when one searches for „paleontologist“ in stock Images, you largely get pictures of men in cowboy hats or colonial pith helmets, searching for theropods, in a desert. (disclaimer, very small portion of palaeontologists actually do that)
Natalia Jagielska @WryCritic auf Twitter, 8.12.2022

Aus den Posts sind zudem Zahlen aus dem Diversity Monitoring der Palaeontological Association zu erfahren,28 die Jagielska zusammenfasst und kommentiert:

"According to Palaeontological Association Diversity Monitoring, ~35% of palaeontologists are members of the LGBTQ+ 🏳️‍🌈 Which means, if you meet a palaeontologist in the wild, there are 1/3 (high) chances they're queer af."
"Dinosaurs 🦕 are 🦖 queer af."

Yeay - queere Dinos und queere Paläntolog*innen – als hätten wir das schon immer geahnt:-)

Tweet von SUE the T-Rex mit dem Text: Thanks to @thmsngyn [ein*e andere*r User*in], I added pronouns to my bio. - Science doesn’t know my actual sex. - If it helps one person feel comfortable, good. - Darunter ein Screenshot der Account-Infos von Specimen FMNH PR2081 @SuetheTRex mit dem Text: Hi, I’m SUE, the T-Rex (SUE in all caps, please) I live @fieldmuseum. I’m a Leo, I like meat, and I’m the world’s largest T.Rex. „They/Them“.
Das Dinoskelett SUE the T.Rex @SUETheTrex auf Twitter, 20.3.2017

Nicht nur die Profession, auch die Dinos selbst werden queer, so tritt der als "Sue" benannte berühmte T-Rex nach einer 'sexuellen Identitätskrise'29 seit einigen Jahren als non-binäre Dinosaurier*in mit den Pronomen they/them auf.30 Dass die Geschlechtsbestimmung an Dinosaurier-Skeletten ohnehin hochgradig arbiträr ist,31 ist weniger verwunderlich, doch war die Benennung und weibliche Geschlechtszuschreibung des populärkulturell und wissenschaftshistorisch so stark männlich konnotierten T-Rex in den späten 1990er Jahren ein Novum und es ist ein wenig bitter, dass ausgerechnet einer der wenigen weiblich identifizierten Saurier nun umklassifiziert wird.32 Gleichzeitig jedoch bot Sue's öffentlich deklarierte neue Non-Binarität wichtigen und willkommenen Support queerer und non-binärer Communities in den USA.

Und in der Tat werden weitere queere Stimmen in der Paläontologie hörbar, vgl. etwa das Coming-Out von Riley Black als Transgender und Non-Binary in der "Career Column" der Zeitschrift Nature,33 in dem Riley zudem das 'Indiana Jones'-Image der Paläontologie problematisiert:

"People of colour, queer scientists, members of Indigenous communities and others still struggle for recognition in a discipline dominated by white men, some of whom intentionally cultivate an ‘Indiana Jones’ image — a long-lasting, popular representation of a palaeontologist that excludes many cultures, personalities and narratives."

Wie Hand in Hand mit Ulrikes aktuellem Text zur nationalistischen patriarchalen und rassistischen Kolonialgeschichte der Dinosaurierforschung34 kann mit Riley nur unterstrichen werden:35

"It’s Time for the Heroic Male Paleontologist Trope to Go Extinct"
Logo der Antiverschwurbelten Aktion: Rundes Logo mit breitem schwarzem Rand, auf dem in weißen Großbuchstaben steht: Antiverschwurbelte Aktion. Im neongrünen Feld in der Mitte stehen zwei Dinosaurierfiguren, die sich teilweise verdecken: Ein pinkfarbener vor einem schwarzfarbenen schematisierten Dino.

Antifaschistische Dinos

Während der Corona-Pandemie 2020 begann in Deutschland eine andere unerwartete Mobilisierung von Dinosauriern.

Im Kontext des Bündnisses #reclaimrosaluxemburgplatz gegen die ersten verschwörungsmythologischen Corona-Proteste36 bildet sich eine echsenhafte neue aktivistische Bewegung heraus, welche die Gegenproteste gegen die 'Schwurbel' gamifizieren: Menschen in Dinosaurier-Kostümen geben sich als jene Echsenregierung aus, an die einige der Corona-leugnenden Verschwörungsmytholog*innen glauben und versuchen mit performativen Methoden der Überaffirmation und Satire in methodischer Genealogie der Kommunikationsguerilla37 die Beteiligten bei ihren Sorgen abzuholen und zur Umkehr zu bewegen. Gleichzeitig werden die Corona-Demos investigativ-journalistisch begleitet und die Rolle der Aktivitäten von Akteur*innen aus neurechten und rechtsextremen Kreisen ins Visier genommen.

Die in Berlin initiierte, bundesweit agierende Bewegung Antiverschwurbelte Aktion oder auch die Echsistenzialitische Bewegung koordiniert und vernetzt sich über digitale Plattformen: Über Telegram werden die verschwörungsmythologischen Demonstrationen beobachtet, wird zu Aktionen aufgerufen, von den mittlerweile bundesweiten Aktivitäten berichtet, Fotos oder auch Bastelanleitungen für Dinosaurier-Masken geteilt.38 Der satirische, echsig-affirmative und gleichzeitig doch ernste Tonfall der Aktionen gegen Schwurbel-Demos lässt sich gut via Playlist auf Soundcloud nachhören; über den Youtube-Kanal @antiverschwurbelteaktion werden Videos von den Aktionen geteilt; auf Mastodon finden sich auch kritische Einschätzungen der derzeitigen 'Bauernproteste', der Wagenknecht-Partei "BSW" und der Maaßen-Partei "Werteunion".

Im November 2020 findet sich eine erste Theoretisierung der Methoden auf Indymedia, die die "Aktionsform […] gewissermaßen aus spontaner Sympathie [unterfüttert]", sowie eine Historiographie und ein Manifest vorschlägt.39 Dort heißt es:

"Was liegt in diesen Zeiten also näher, als selbst ein Echsenmensch zu werden und die in eine*r bereits angelegte Echsigkeit zu erkennen und wohlwollend zu bejahen? Was ist naheliegender, als die vermeintlich geheime Verschwörung offen zu legen und sie zu einer öffentlichen Verschwörung zu machen, bei welcher jede*r allein durch das eigene Bekenntnis und die Assoziation in einem Echsen-Klüngel mitmachen kann? Es gilt (durch spektakuläre Verfremdung) die Wahrheit auszusprechen, die niemand hören will, weil sie langweilig und bitter ist: Dass wir unter Herrschaftsverhältnissen leben, mit denen wir jedoch brechen und gegen die wir ankämpfen können..."

Im Rahmen der Kritischen Orientierungswochen des ASTA der TU Berlin zum Wintersemester 2020/21 präsentiert sich die Antiverschwurbelte Aktion per Stream – eine Mischung schräger, sehr trashiger Videos sowie ausgesprochen präziser Analysen der auf den 'Corona-Demos' am Rosa-Luxemburg-Platz aktiven Akteur*innen.40

Es folgen Auftritte bei den Kongressen des Chaos Computer Clubs 2020, 2021 und 2022 – 2020 wird der Stream angekündigt unter dem Motto:

"Aktivist*innen der Antiverschwurbelten Aktion nehmen den kleinen Volksaufstand mit Humor. Seit dem sich die sogenannte Hygiene-Demo auf dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin bildete, gehen Echsenmenschen energisch gegen die Schwurbel vor. Es geht um praktische Gegenstrategien."

Eine antifaschistische Mobilisierung mit Dinosauriern steht damit weiter an – um es mit dem oben genannten Manifestvorschlag aus Indymedia zu sagen:

"Wir fordern euch auf und fordern euch heraus: Schließt euch uns an! Entdeckt eure Echsigkeit, bekennt euch zu eurer Echsigkeit! Befreit euch und andere, indem ihr alle herrschaftlichen Echszesse endlich hinter euch lasst! Bekämpft die Wahnhaften, denn wir alle sind die Verschwörung, gegen die sie sich zu richten glauben! – Klassenkampf und Versöhnung statt Liebe und Volksmob!"

Und tatsächlich beginnen Dinos als antifaschistisches Motiv die Runde zu machen.

Farbfoto von einer Demonstration: Eine Person, die uns den Rücken zudreht, hält ein selbstgemaltes Pappschild hoch, auf dem in grün, schwarz und roter Farbe der Text steht: T-REX gegen Rechts. Darunter ein gezeichneter stehender Dino, der ein rotes T-Shirt mit einer Regenbogen-Zeichnung anhat, und ein Schild hochhält, auf dem der Text steht: FUCK AFD
Auf der Demo gegen Rechts "Wir sind die Brandmauer!" am 3.2.2024 in Berlin

Allein, bei aller Sympathie, dem Motiv des Klassenkampfs wären doch noch eine deutliche Portion queer-feministischer und dekolonisierend-antirassistischer Aktivismus beizumengen. Aber dafür sind wir ja da, denn:

"die dinoliebe stirbt nicht 🙂"

Iyi ki doğdun – iyiki varsın, liebe Ulrike:-)

Abbildungen, Screenshots und Photos, wenn nicht anders angegeben von Christine Krischan Hanke.


  1. aus dem Motiv einer Postkarte von Ulrike Bergermann im Sommer 2020.
  2. Ulrike hielt einen Vortrag zu "Datenbanklogik, Bioinformatik, Wissensproduktion beim Human Genome Project", während ich zu den "Rasterungen der physischen Anthropologie um 1900" vortrug. Publiziert finden sich unsere Beiträge hier: Ulrike Bergermann: Datenbanklogik, Bioinformatik, Wissensproduktion beim Human Genome Project. In: Tanja Nusser, Elisabeth Strowick (Hg.): Rasterfahndungen. Darstellungstechniken – Normierungsverfahren – Wahrnehmungskonstitution. Bielefeld: transcript 2003, 267-287 und Christine Hanke: Rasterungen der physischen Anthropologie. Ebd., 55-74.
  3. Mittlerweile gibt es einen weltweiten Markt für animatronische Dinosaurier, wie eine kurze Suchmaschinen-Recherche im Internet ergibt – gefundenes Fressen für weitere Forschungen: https://www.realistic-dinosaur.com/, https://www.mydinosaurs.com/, https://aidinotech.com/de/, https://de.amodinos.com/
  4. Das Londoner T-Rex-Display spielt sehr deutlich auf Steven Spielbergs Film Jurassic Park (USA 1993) mit den ersten CGI-animierten Kinosauriern an, der nicht nur solche musealen Vermarktungen sondern auch das neue Blockbuster-Kino vorwegnimmt und ironisch kommentiert.
  5. Leider sind meine (damals noch analogen) Fotos hiervon, auf denen noch die Reste der offenkundig nicht so einfach zu entfernenden roten Farbspuren zu sehen sind, derzeit nicht aufzufinden. Heute wird der T-Rex ohne Beutetier, stattdessen vor Pflanzen, geradezu als Vegetarier präsentiert, vgl. etwa dieses Youtube-Video von einem Besuchenden: https://www.youtube.com/watch?v=zMFrWKKkQLk (2023).
  6. Im deutschen Fernsehen wurden die Folgen noch im gleichen Jahr unter dem Titel Dinosaurier – Im Reich der Giganten beim Privatsender ProSieben ausgestrahlt. Zur wissenschaftlichen Absicherung wurden die Filme von umfangreichen Making Ofs begleitet.
  7. Christine Hanke: Walking With Gertie. Eine Skizze zum spektakulären Bild. In: Texte – Zahlen – Bilder: Realitätseffekte und Spektakel (= labor : theorie Band 5) Bremen: thealit 2010, 203-211.
  8. Für das Berliner Naturkundemuseum siehe die aus einem Forschungsprojekt zur Kolonialgeschichte des Brachiosaurus brancai am Naturkundemuseum Berlin entstandene Publikation: Ina Heumann et al (Hg.): Dinosaurierfragmente. Zur Geschichte der Tendaguru-Expedition und ihrer Objekte. 1906-2018. Göttingen: Wallstein 2018.
  9. vgl. Schwerwiegende Schenkungen. Zur Aneignung der Objekte im Mineralogischen Museum in Berlin (1770–1840). Forschungsprojekt zu den Naturaliensammlungen des Naturkundemuseums Berlin (2020-2024), https://www.museumfuernaturkunde.berlin/de/wissenschaft/schwerwiegende-schenkungen, und die Vortragsreihe "Collecting Minerals, Extracting the Earth. Political Dimensions of Geoscience" im Berliner "Colloquium Humanities of Nature" (2023).
  10. Den Hinweis auf die Debatte verdanke ich Ulrike Bergermann. Vgl. z.B. Sean (Decatur): Statement on New NAGPRA Regulations, American Museum of Natural History 26.1.2024, https://www.amnh.org/about/statement-new-nagpra-regulations, Berichte hierzu u.a. in der New York Times: Julia Jacobs and Zachary Small: Leading Museums Remove Native Displays Amid New Federal Rules, NYT 26.1.2024, https://www.nytimes.com/2024/01/26/arts/design/american-museum-of-natural-history-nagpra.html und im Guardian: Maya Yang: New York museum to close halls featuring Native American artifacts. The Guardian 27.1.2024, https://www.theguardian.com/culture/2024/jan/27/new-yorks-natural-history-museum-to-close-halls-featuring-native-american-artifacts.
  11. Vgl. Erin L. Thompson: A New York Museum’s House of Bones. Hyperallergic 15.10.2023, https://hyperallergic.com/850350/a-new-york-museums-house-of-bones/; Karen K. Ho: American Museum of Natural History Holds 12,000 Human Remains, Including Indigenous and Enslaved People. ARTnews 19.10.2023, https://www.artnews.com/art-news/news/american-museum-natural-history-12000-human-remains-indigenous-enslaved-poor-people-reports-1234682761/; Sean (Decatur): Human Remains Stewardship. Letter from President Sean Decatur to Museum Staff, American Museum of Natural History 12.10.2023, https://www.amnh.org/about/human-remains-stewardship. Eine Problematisierung der involvierten Ikonographien findet sich bei Stephanie Moser: Ancestral Images. The Iconography of Human Origins. Ithaca NY: Cornell UP 1998.
  12. ganz im Unterschied zum filmischen Aufeinandertreffen in den o.g. Spin-Offs zu Walking With Dinosaurs, aber auch schon in frühen Dino-Spielfilme wie The Dinosaur And The Missing Link. A PrehistoricTragedy (USA 1915, Willis H. O'Brien), The Lost World (USA 1929, Harry O Hoyt) oder King Kong (USA 1933, Merian C. Cooper) u.v.m.
  13. Christine Hanke: Walking With Gertie. Eine Skizze zum spektakulären Bild. In: Texte – Zahlen – Bilder: Realitätseffekte und Spektakel (= labor : theorie Band 5) Bremen: thealit 2010, 203-211; Christine Hanke: Kino der Effekte – Überlegungen zum Status des spektakulären Bildes. In: Raumdeutung. Zur Wiederkehr des 3D-Effekts im Film. (Hg. v. Jan Distelmeyer, Lisa Andergassen und Nora Johanna Werdich). Bielefeld: Transcript 2011, 96-115.
  14. Ulrike Bergermann: "Fortpflanzungsbewegungen". Digitale Dinosaurier und die Evolution von Wissensarten. In: Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme. (Hg. v. Ludwig Jäger, Gisela Fehrmann, und Meike Adam). München: Fink 2012, 175-191; Ulrike Bergermann: Deep Empire. Kolonialgeschichte und Gegenwart der Dinosaurier. In: Geographien der Kolonialität. Geschichten globaler Ungleichheitsverhältnisse der Gegenwart. (Hg. v. Sybille Bauriedl und Inken Carstensen-Egwuom). Bielefeld: transcript 2023, 142-189.
  15. Ulrike Bergermann und Christine Hanke: Boundary Objects, Boundary Media: Von Grenzobjekten und Medien bei Susan Leigh Star und James R. Griesemer. In: Susan Leigh Star. Grenzobjekte und Medienforschung. (Hg. v. Sebastian Gießmann und Nadi-ne Taha). Bielefeld: Transcript 2017, 117-130.
  16. Susan Leigh Star und James R. Griesemer: Institutional Ecology, 'Translations' and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley's Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39. Social Studies of Science 19 (3) (Aug., 1989), 387-420.
  17. Eva von Redecker: Bleibefreiheit. Frankfurt a.M.: Fischer 2023, 139.
  18. Linda Gallé und Uwe Moldrzyk: T.Rex. MB.R.91216. Katalog zur Ausstellung "Tristan – Berlin zeigt Zähne". Berlin: Museum für Naturkunde 2015.
  19. Auf meinem Katalogcover finden sich hiervon deutliche Spuren.
  20. Diesen Tweet habe ich Ulrike Bergermann brühwarm weitergeleitet.
  21. BBC News: Student finds fossil of 170-million-year-old winged reptile on Scottsh island. BBC News @Youtube. February 2022, https://www.youtube.com/watch?v=JS-IjqN-Rjk; weitere Videos und ein Podcast-Mitschnitt finden sich auf der Website von Natalia Jagielska: https://natalia-jagielska.weebly.com/teaching--outreach.html.
  22. https://twitter.com/WryCritic/status/1614775164847230977.
  23. Skye high: Jurassic pterosaur discovery. National Museums Scotland 22.2.2022, https://www.nms.ac.uk/collections-research/collections-departments/natural-sciences/natural-sciences-news/skye-high-jurassic-pterosaur-discovery/.
  24. Natalia Jagielska et al: A skeleton from the Middle Jurassic of Scotland illuminates an earlier origin of large pterosaurs, Current Biology 32 (6), 28 March 2022, 1446–1453.e4, vgl. a. Natalia Jagielska und Stephen L. Brusatte: Pterosaurs, Current Biology 31, August 2021, R973-R992.
  25. Vgl. Jagielskas Profil bei Twitter: https://twitter.com/WryCritic.
  26. https://twitter.com/wrycritic/status/1641791364638580737?s=12&t=EmwMF5TRcK8dXyPiZEJPig, März 2023.
  27. Ulrike Bergermann: Deep Empire 2023, a.a.O.
  28. The Palaeontological Association: Diversity Study 2018, https://www.palass.org/association/diversity-study.
  29. Jacqueline Ronson: Sue the Tyrannosaur Has a Sexual Identity Crisis. Inverse 1.12.2016, https://www.inverse.com/article/24327-sexual-dimorphism-dinosaurs-male-female-sue-t-rex-fields-museum.
  30. FieldMuseum Press Release: I (SUE the T. rex) am moving to my own place and all y’all are invited, 29.1.2018, https://www.fieldmuseum.org/about/press/i-sue-t-rex-am-moving-my-own-place-and-all-yall-are-invited; S.E. Fleenor: How a T. Rex Named SUE Became a Nonbinary Icon. them, 4.5.2018, https://www.them.us/story/sue-the-t-rex-is-a-nonbinary-icon.
  31. Ähnlich wie auch an menschlichen Knochen, vgl. Christine Hanke: Zwischen Auflösung und Fixierung. Zur Konstitution von 'Rasse' und 'Geschlecht' in der physischen Anthropologie um 1900. Bielefeld: Transcript 2007, 131-166.
  32. Dies erinnert ein wenig an befürchtete Konkurrenzen in der Gleichstellungspolitik an den Hochschulen.
  33. Riley Black: Queer voices in palaeontology, Nature Career Column, 5.7.2019, doi:10.1038/d41586-019-02113-6.
  34. Ulrike Bergermann: Deep Empire 2023, a.a.O.
  35. Vgl. a. Riley Black: It’s Time for the Heroic Male Paleontologist Trope to Go Extinct. Slate April 03, 2019, https://slate.com/technology/2019/04/what-the-new-yorker-dinosaur-story-gets-wrong.html.
  36. Als eine der Keimzellen können wohl die Kundgebungen an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin ab Ende März 2020 gelten, vgl. Verena Stern: Corona-Krise: Was bedeuten die Proteste gegen staatliche Maßnahmen zur Pandemieeindämmung? bpb 17.6.2020, https://www.bpb.de/themen/gesundheit/coronavirus/311575/corona-krise-was-bedeuten-die-proteste-gegen-staatliche-massnahmen-zur-pandemieeindaemmung/; Silvia Stöber: Jahrmarkt der kruden Ideen, tagesschau 1.5.2020, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-demos-101.html.
  37. Handbuch der Kommunikationsguerilla. (Hg. v. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe Luther Blisset / Sonja Brünzels). Berlin/Göttingen 1997; autonome a.f.r.i.k.a. gruppe: Kommunikationsguerilla – Transversalität im Alltag? 09/2002) https://transversal.at/transversal/1202/aag1/de?hl=Kommunikationsguerilla.
  38. Gelegentlich schicke ich Ulrike Dino-Hinweise und Bilder-Links aus den Chats.
  39. echsen-kollegen: Die Entschwörung der Echsenmenschen. Konturen einer performativen anti-verschwörungsmythologischen Aktionsform, de.indymedia.org, 29.11.2020, https://de.indymedia.org/node/121154.
  40. EchsIt – Antiverschwurbelte Aktion präsentiert Teil 1: Hygienedemonstrationen? Im Rahmen der Kritischen Orientierungswochen des ASTA der TU Berlin, 4.11.2020, https://www.youtube.com/watch?v=dpPrUPpm5pI&t=1018s. Ab Min. 17:00, Der versprochene zweite Teil wird nicht ausgestrahlt.