jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

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Elisabeth Strowick

Gertrude Stein: Alphabets and Birthdays

„On the twenty-eighth of February in and win always so prettily.”
(Gertrude Stein, A Birthday Book)
Rosafarbene Buchseite, auf der sich ein in Blau gezeichneter Reigen von Tieren um eine Figur in weißem Kleid und einen weißen Löwen bewegt
Foto aus: Gertrude Stein: The World is Round. Illustrations by Clement Hurd. New York: William R. Scott, Inc. 1939 (First Edition), 1

Man kann durchaus von einem beharrlichen Wiederauftauchen von Gertrude Stein – der Figur wie ihrem Schreibverfahren – in Ulrike Bergermanns Arbeiten sprechen. Mit Beharren (insistence) ist bewusst der Terminus gewählt, den Stein der Wiederholung entgegensetzt, so etwa in ihrer Vorlesung Portraits und Repetition, die ein wiederkehrender Angelpunkt für Ulrike Bergermanns Bezug auf Stein ist. Es ist mit dem Umzug nach Baltimore im Alter von 17 Jahren, wo Gertrude Stein mit einer Vielzahl von Verwandten lebt, namentlich „a whole group of very lively little aunts,“1 dass sie „really realized the inevitable repetition in human expression that was not repetition but insistence“ (PR 168). Die Szene, in der sich diese Erkenntnis einstellt, die – wenn man so will – Urszene der Stein‘schen Poetik, ist die Szene von elf beständig schwatzenden Tanten, welche, wo sie unablässig erzählen, zugleich zuhören. Dabei ist es eben die Gleichzeitigkeit von Sprechen und Zuhören, welche jede identische Wiederholung verhindert. Der Begriff, mit dem Stein diese kollektive Verschaltung von Produktion und Rezeption belegt, ist kein Geringerer als der des Genies:  

„One may really indeed say that that is the essence of genius, of being most intensely alive, that is being one who is at the same time talking and listening. It is really that that makes one a genius.”
(PR 170)
„I say I never repeat while I am writing because while I am writing I am most completely, and that is if you like being a genius, I am most entirely and completely listening and talking.”
(PR 180)

Es ist die rezeptiv-kollektive Transformation von Autorschaft, die Ulrike Bergermann an Stein interessiert: „Eine Zuhörerin, die auf andere Stimmen lauscht, während sie schreibt, nennt Gertrude Stein genial. Das Geniale an dieser Konstruktion ist die Verortung der Position Autor in einer ebenso zentralen wie nebengeordneten Stellung (eine zentrale Sammel-, Umordnungs- und Verteilstelle von Nicht-Eigenem.)“2 Die Gleichzeitigkeit von Schreiben und Zuhören („andere im Ohr“3) sowie eine kollektive Ausrichtung ist es auch, die Ulrike Bergermanns Arbeitsweise charakterisieren, weshalb man diese im Stein‘schen Sinne getrost als „genial“ bezeichnen darf. Eine Erosion von Autorschaft vollzieht sich zudem über die Paarkonstellation Gertrude Stein – Alice B. Toklas, eine Schreib- und Arbeitskonstellation, wie Ulrike Bergermann im Eintrag zu Gertrude Stein in Frauenliebe/Männerliebe. Eine lesbisch-schwule Literaturgeschichte in Porträts (1997) dargelegt: „Gertrude Stein schrieb nachts mit einem Bleistift in ihre Notizbücher, und wenn sie bei Tagesanbruch ins Bett ging, stand ihre Lebensgefährtin Alice B. Toklas auf um abzuschreiben, abzutippen, korrekturzulesen und später alle Texte mit Stein zu besprechen.“4 Der berühmte Satz „A/ ROSE IS A/ ROSE IS A/ ROSE IS A/ ROSE” stammt mithin „nicht einfach aus einer Feder“ (GS 413), sondern verdankt sich der Paarkonstellation als Schreibszene. Mit dem Erscheinen von The Autobiography of Alice B. Toklas (1933), so Ulrike Bergermann, „wird „A Rose“ geradezu zum Emblem für das literaturproduzierende Paar. Weder auf dem Umschlag noch auf Titelblatt oder Schmutztitel steht ein Autorname, stattdessen ist „A Rose“ im Zirkel auf den Umschlag gedruckt.“ (GS 414) Man kann hier wohl von einem queering of authorship sprechen.5

Ist Stein zum einen mit ihren Interventionen in das Konzept Autorschaft in Ulrike Bergermanns Arbeitsweise virulent, so zum anderen qua Verschaltung von Sprache und visuellen Medien, wie sie sich in Steins Schreibverfahren vollzieht. Steins Portraits mit Worten werden von Ulrike Bergermann vielfach mit Blick auf das Verhältnis von Schrift und Bild analysiert:6 Steins erste Portraits, darunter ihr berühmtes Portrait „Pablo Picasso“, erscheinen in der Zeitschrift für Fotografie „Camera Work. A Photographic Quarterly“. Allerdings ist es weniger die Fotografie als das Medium Film, dem Steins Schreiben korrespondiert: „I was doing what the cinema was doing“ (PR 176). Steins geschriebene Portraits sind „like a cinema picture made up of succession and each moment having its own emphasis that is its own difference” (PR 198). Was Steins Poetik mit dem Medium Film verbindet, ist die kontinuierliche Bewegung/Verschiebung/Zeitlichkeit, die Wiederholung als Schauplatz von Differenz ausweist: „[…] there is no such thing as repetition [...] There is always a slight variation. […] The cinema goes on the same principle: each picture is just infinitesimally different from the one before.”7

Mit Gertrude Stein im Ohr haben es die Medienwissenschaften nicht zuletzt mit Literatur zu tun, wobei die Produktion and Rezeption von Literatur wiederum nicht von anderen Medien und Wissensformationen zu trennen ist, bei Stein auch nicht von psychologischen Experimenten, etwa zu „Normal Motor Automatism“ (1896). Medienwisssenschaft – instruiert von Gertrude Stein – stellt sich als ein Experimentierfeld dar: gleichzeitiges Sprechen und Zuhören zwischen verschiedenen Medien, Techniken, Diskursen, Disziplinen und Darstellungsformen.

Noch ein dritter Aspekt wäre zu nennen, der Gertrude Steins und Ulrike Bergermanns Arbeitsweisen verbindet: das Interesse am Zeitgenössischen (contemporariness):

„[...] everybody is contemporary with his period. [...] the whole business of writing is the question of living in that contemporariness. […] The thing that is important is that nobody knows what the contemporariness is. In other words, they don’t know where they are going, but they are on their their way.”
(HW 151)
“The contemporary thing in art and literature is the thing which doesn’t make enough difference to the people of that generation so that they can accept it or reject it. […] The contemporary thing is the thing you can’t get away from. That is the fundamental thing in all writing.”
(HW 152)

Kann man dem Zeitgenössischen einerseits nicht entgehen, so ist es andererseits dasjenige, was keiner kennt, dessen Konturen unklar sind, das noch keine Einordnung erfahren hat, „the thing which doesn’t make enough difference“, über das insofern nicht recht geurteilt werden kann, das sich im Entstehen und Vergehen befindet, nicht von außen betrachtet werden kann, da man immer schon Bestandteil davon ist, ja, von dem man nicht sicher sein kann, ob es sich überhaupt als Forschungsgegenstand eignet oder nicht. Es sind gerade dieses Unbekannte und Unklare des Zeitgenössischen, die damit einhergehenden epistemologischen und institutionellen Herausforderungen und Möglichkeiten, denen sich Ulrike Bergermann unablässig aussetzt, die sie erkundet, ja, die ihre Arbeit – Analyse, Kritik, Intervention in Jetztzeit – motivieren. Dies auch mit Blick auf Fragen von Fachgeschichte, der Gründung von Leeren Fächern8etwa, wie einst dem Fach Medienwissenschaft. 

Und dann ist da noch ein anderes Genre in Steins Oeuvre, das eine besondere Affinität zu Geburtstagen – und mithin zum Anlass dieser Festschrift – zu unterhalten scheint: ihre children’s books. Steins The World is Round (1939) beginnt in den Worten des Märchens: “Once upon a time the world was round and you could go on it around and around.”9 “Around and around” – auch hier wieder die Bewegung, die Schreiben und Film verbindet und auch in der Illustration von Clement Hurd zur Geltung kommt (s. Abb.). “Moving” heißt bei Stein “not moving in relation to anything not moving in relation to itself but just moving” (PR 202). Alles dreht sich, kein Halt oder fixer Ort, der der Stein‘schen Sprachbewegung entzogen wäre: „Oh dear oh dear was everything just to be round and go around and around.“ (WR 15) Im unablässigen Kreisen, Umkreisen, Drehen, Verdrehen – ja sagen wir ruhig: Wiederholen – jedes Wortes, jedes Satzes, wird Schreiben zur Produktionsstätte von Differenz. „Going around and around“ beschreibt keine zirkuläre Bewegung, keine Rückkehr zu einen vorgeblichen Ausgangsort/Ursprung, sondern dessen irreduzible Nachträglichkeit, die sukzessive Verschiebung von Bedeutung, ein immer wieder neues Anfangen, serielle Fortsetzung. Das „once“ in „once upon a time“ darf in Zweifel gezogen werden.

“And then there was Rose.” (WR 7) Die Figur, die dieser Satz zu etablieren scheint, wird in einer denkwürdigen Schreibszene ebenfalls in Bewegung/Differenz überführt:

“[…] and then she saw a lovely tree and she thought yes it is round but all around I am going to cut Rose is a Rose is a Rose and so it is there and not anywhere […] So she took out her pen-knife, she did not have a glass pen she did not have a feather from a hen she did not have any ink she had nothing pink, she would just stand on her chair and around and around even if there was a very little sound she would carve on the tree Rose is a Rose is a Rose is a Rose is a Rose until it went all the way round.”
(WR 50)

Wer wollte angesicht dieser Schreibszene sagen, ob es sich bei „Rose“ um eine Mädchenfigur, eine Blume, eine Schreibbewegung handelt? Was die Szene zeigt, ist, was Schreiben heißt: nämlich eine sich im „around and around“ unendlich vervielfältigende Bewegung, in der – einem mise en abyme gleich – “Rose is a Rose is a Rose is a Rose“ geschrieben wird von „Rose is a Rose is a Rose is a Rose“. Wer also schriebe hier, wenn nicht Sprache-als-Bewegung? – Im „going around and around“ verflüchtigt sich nicht nur die Figur, sondern auch das „there“.  Hatte es zu Anfang geheißen: „And then there was Rose”, so fragt der Text im vorletzten Abschnitt („There“) „where is there“: “I am here and here is there oh where oh where is there oh where. And Rose began to cry oh where where where is there. I am there oh yes I am there oh where oh where is there.” (WR 59f.) Da – so lässst sich nicht nur bei Freud, sondern auch bei Gertrude Stein lesen – ist immer schon fort. The World is Round endet – aber was heißt da noch enden? – mit den Worten: “and the world just went on being round.” (WR 62)

Wie aber bin ich auf Gertrude Steins The World is Round gekommen? Ulli hat mir das Buch zu meinem 30. Geburtstag geschenkt. Ob nun zum 30. oder 60. Geburtstag – anläßlich von Geburtstagen zu Steins children’s books zurückzukehren, scheint doch immer wieder eine gute Idee: Steins To Do: A Book of Alphabets and Birthdays formuliert den Bezug zwischen children’s books and birthdays schon im Titel. „A birthday book I would have liked as a child“, so Gertrude Stein über ihr 1940 entstandenes Buch, das zu ihren Lebzeiten (wie auch andere ihrer Kinderbücher) keinen Verlag gefunden hat. Der erste Satz lautet: “Alphabets and names make games and everybody has a name and all the same they have in a way to have a birthday.”10 Über die Reaktion ihrer Leserin und Mitautorin Alice B. Toklas weiß Stein zu berichten: “Alice says the book is very funny it makes her laugh but she says it is too old for children and too young for grown-ups.”11 Was Alice B. Toklas über To Do: A Book of Alphabets and Birthdays sagt, lässt sich mit Blick auf die Leser*innen von Steins children’s books leicht variieren: ‘too old to be a child, too young to be a grown-up’. In diesem Sinne: Happy Birthday, Ulli! Twice upon a time.


  1. Gertrude Stein, Portraits and Repetition, in: Lectures in America, London 1988, 165-206, hier: 168. Sigle PR.
  2. Ulrike Bergermann, Kleist lies’t. Lesen, Interpunktonen und geniales Zuhören, in: Susanne Gottlob, Claudia Jost, Elisabeth Strowick, „Was ist Kritik?“ Fragen an Literatur, Philosophie und digitales Schreiben, Hamburg 2000, 353-364, hier: 353.
  3. Ulrike Bergermann, medien//wissenschaft. Text zu Geräten, Geschlecht, Geld, Bremen 2006, 11.
  4. Ulrike Bergermann, Gertrude Stein, in: Frauenliebe/Männerliebe. Eine lesbisch-schwule Literaturgeschichte in Porträts hg. von Alexandra Busch und Dirck Linck, Stuttgart 1997, 413-418, hier: 413. Sigle GS.
  5. Zum Status von Gertrude Stein in der queer theory vgl. Ulrike Bergermann, Das Bildnis der Gertrude Stein. Picassos Portrait im Blick der Queer Theory, in: Gerhard Härle, Wolfgang Popp, Annette Runte (Hg.), Ikonen des Begehrens. Bildsprachen der Homosexualität in Literatur und Kunst, Stuttgart, Weimar 1997, 121-150.
  6. Vgl. Ulrike Begermann, Das Bild von Gertrude Stein von Pablo Picasso. Picassos Portrait und Steins Frage nach der Autorschaft, in: Kathrin Hoffmann-Curtius, Silke Wenk (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, 116-129; dies., „Dinge schreiben/filmen. Gertrude Steins Kameraarbeit“, in: Gisela Ecker, Claudia Breger, Susanne Scholz (Hg.), Dinge - Medien der Aneignung, Grenzen der Verfügung, Königstein 2002, 218-224.
  7. Gertrude Stein, How Writing is Written, in: How Writing is Written, Los Angeles 1974, 151-160, hier: 158. Sigle HW.
  8. Ulrike Bergermann, Leere Fächer. Gründungsdiskurse in Kybernetik & Medienwissenschaft, Münster u.a. 2015.
  9. Gertrude Stein, The World is Round, New York 1965, 7. Sigle WR.
  10. Gertrude Stein, To Do: Alphabets and Birthdays, New Haven u.a. 2011, 11.
  11. Gertrude Stein an Robert Bartless Haas, Mai 1940, zitiert nach: Donald Gallup, Introduction, in: Gertrude Stein, Alphabets and Birthdays, New Haven 1957, vii-xix, hier: viii.