jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

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Sabine Höhler

Der Mediale Planet: Konjunkturen

1.
Es war zu Anfang des neuen Millenniums, als ich Ulrike Bergermann zuerst begegnete, am Rande einer Tagung oder anlässlich eines Geburtstags einer Freundin. Jedenfalls fand ich mich am Abend in einer Gruppe in einem Restaurant irgendwo in Berlin Mitte in Gesellschaft von Christine „Krischan“ Hanke wieder, die ich aus Berliner Zeiten kannte, und von Ulrike, der ich bis dahin nur durch ihre Veröffentlichungen begegnet war. Gemeinsam war uns, dass wir alle drei KollegInnen bzw. Freundinnen in der sozial-ökologischen Forschung in Hamburg hatten, wo ich seit 2002 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem interdisziplinären BMBF-Projekt angestellt war, als einzige Geisteswissenschaftlerin. Im Projekt ging es um nachhaltige Stadtentwicklung, um räumliche Bezüge im Nachhaltigkeitsdiskurs und um die ökonomische Konstruktion ökologischer Wirklichkeiten. Ich begann eine Arbeit zur Wissenschaftsgeschichte der Biosphäre im 20. Jahrhundert, um die räumlichen Konstruktionen zu studieren, die den endlich gedachten irdischen Quellen, Senken und Metabolismen zugrunde lagen. Es ging mir um die Vorstellung der Erde als geschlossenes planetares System, das ein Konzept wie Nachhaltige Entwicklung erst sinnvoll werden ließ und bestimmte Mechanismen der Global Environmental Governance nahelegte, etwa ein globales CO2-Budget, den Handel mit Verschmutzungszertifikaten oder lokale Eingriffs- und Ausgleichsregelungen.

Krischan war es gewesen, die mir die Ausschreibung der Hamburger Projektstelle ans Herz gelegt hatte. Und in der Tat, das Hamburger Team war originell, ehrgeizig und liebenswert und ließ mir in meiner Arbeit freie Hand. Bei all unserer Begeisterung konnten wir über das inter- und transdisziplinäre Arbeiten und unsere unterschiedlichen Herangehensweisen der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften vortrefflich streiten. Ich erzählte Krischan und Ulrike davon, dass meine KollegInnen aus der Geografie, Ökonomik und Politikwissenschaft meine Vorgehensweise als Historikerin befremdlich fanden. Mit ihrer Neugierde und Wissbegierde fühlte ich mich zum ersten Mal in meiner noch jungen akademischen Karriere ernsthaft herausgefordert, exakt zu erklären, wie ich arbeite. Es waren nicht die zu erwartenden Fragen nach dem Argument oder dem Stand der Forschung, dem Zeitraum oder den Quellen, sondern essenziellere, geradezu existenzielle Fragen: Mein Vorgehen, Material und Motive über verschiedene Genres hinweg zu kombinieren, schien meinen KollegInnen weniger innovativ als eklektisch. Ich schaute apokalyptische Science-Fiction Filme der 1960er und 70er Jahre über den drohenden Ökozid und über artifizielle Ersatzumwelten im Weltraum und zog daraus Schlüsse für sich herausbildende Lebensraumfantasien im Umweltzeitalter. Aber wie genau, wo ich doch keine ausgebildete Film- oder Medienwissenschaftlerin war? Machte ich es mir also auf dem Sofa bequem, legte eine DVD ein, öffnete eine Tüte Chips, und dann stellte sich die Filminterpretation wie von selbst ein?

Was ich hilflos mit Historisierung, Quellenkritik und Diskursanalyse umschrieb, verdeutlichte nur, dass mein Anliegen programmatisch sein mochte, aber eben ohne Programm. Ich verfolgte keine Methode und nahm auf keine Methodologie Bezug. Meine Arbeit war zwar verständlich, aber nicht nachvollziehbar. Sie war Philosophie, quasi intuitiv, ohne eine formalisierte Anleitung, um prinzipiell von anderen anderswo durchführbar zu sein, idealerweise mit demselben Ergebnis, und damit ohne eine Möglichkeit, über die individuelle Perspektive hinauszuwachsen, verallgemeinerbar zu werden, gar universalisierbar. War das überhaupt Wissenschaft? Eine leichte Verzweiflung überkam mich. Die Naturwissenschaften hatte ich wegen ihres Hangs zur Vereindeutigung hinter mir gelassen, und nun begegneten mir die Gesellschaftswissenschaften mit einem ähnlichen Anliegen. Krischan und Ulrike lachten nur. Für die beiden war es erstens völlig klar und zweitens überhaupt kein Problem, dass die Geisteswissenschaften ebenso wie die Kultur- und Medienwissenschaften es nicht darauf anlegten, gesichertes Wissen hervorzubringen, sondern die Möglichkeitsbedingungen der Wissensgenese selbst hinterfragten. Damit waren sie notwendig multiperspektivisch und plural. Wusste nicht selbst die Physik, dass jede Beobachtung das Ergebnis beeinflusst, dass die Realität der Messung also nicht vorgängig ist, sondern immer auch ihr Effekt?

Krischan und Ulrike hatten offenbar schon viele Tüten Chips auf dem Sofa verzehrt, während sie wissenschaftlich mit einem Film oder einem Buch arbeiteten. Für die beiden war es sonnenklar, dass die Kulturwissenschaften manchmal radikal idiosynkratische, aber niemals willkürliche Denkangebote zur Verfügung stellten. Argumente wurden empirisch materialgestützt oder intertextuell plausibilisiert. Nachvollziehbar sollten sie immer sein, musste doch jedes Datum, jede Quelle in einer Fußnote referenziert werden. Aber geistes- und kulturwissenschaftliche Arbeiten waren nicht in der Annahme verfasst, dass andere jederzeit und überall zum selben Schluss kommen würden, sondern sie legten die Bedingungen des eigenen Denkens offen und historisierten die Methoden selbst. Dabei gingen sie keineswegs unmethodisch vor. Doch waren ihre Argumente immer situiert und mit einer Einladung zur Diskussion verbunden, die Auseinandersetzung ermutigend, ja einfordernd.

2.
Das Hamburger Projekt schlossen wir 2007 erfolgreich ab, und das Team blieb trotz aller Streitereien doch immer eng befreundet. Mir öffnete unser Projekt eine Tür von der Wissenschafts- zur Umweltgeschichte. Ich reiste mit einem Environmental History Fellowship in die USA. Meine Arbeit zum „Raumschiff Erde“ reichte ich 2009 als Habilitationsschrift an der TU Darmstadt ein und verteidigte sie 2010. Darin hatte ich meine ursprüngliche Idee einer Wissenschaftsgeschichte der Biosphäre weiterentwickelt zu einer Kulturgeschichte des Lebensraums Erde im Umweltzeitalter als Raumschiff mit begrenzter Tragfähigkeit und einem technowissenschaftlich konzipierten Lebenserhaltungssystem. Das Raumschiff diente mir als Schlüsselfigur zur Untersuchung der Debatten des späten 20. Jahrhunderts über irdische Ressourcen, Wachstumsgrenzen und mögliche Zukünfte der Menschheit. In der Systemökologie, in der Politik, der Umweltbewegung und der Science-Fiction Literatur des Kalten Krieges wurde das Raumschiff Erde als Arche mobilisiert, die sowohl irdische Endlichkeit als auch einen Ausweg ins All vorstellte. Leben verschob sich zu Überleben; in einem Raumschiff galten neue Lebensbedingungen.

Ulrike begegnete ich im selben Jahr 2010 wieder, und zwar in der Form ihres mitherausgegebenen Bandes zum „Planetarischen“ als einer Denkfigur zum Verständnis des postglobalen Zeitalters.1 In ihrem Beitrag „Das Planetarische. Vom Denken und Abbilden des ganzen Globus“ las ich eine Retrospektive und eine Weiterentwicklung sowohl der interdisziplinären Reichweite des situierten Wissens als auch der Wissenschafts-, Technik- und Umweltgeschichte der ‚Ganzen Erde‘ aus der Sicht einer Medienwissenschaftlerin, bei der nicht das (natur-) wissenschaftliche Objekt Planet im Fokus steht, sondern „Konstellationen, deren Positionierungen zueinander eher als kohärente Einzeltheorien dazu geeignet scheinen, die Problematik eines Wissens von der Welt in den Blick zu nehmen.“ (S. 17-18). In ihrem Aufsatz betont Ulrike durchweg die Situiertheiten und Übersetzungstechniken, in denen sich das Singuläre (etwa eines Standpunktes) und das Universelle (des Planeten, etwa des Erdklimas) bedingen und verschränken (S. 20). Der Planet erlaubt und erwartet die größtmögliche Abstraktion und Aggregation von Beobachtungen und Blickpunkten mit realen Anwendungen und Konsequenzen.

Mit Blick auf die komplizierten Skalierungseffekte ließe sich die vermeintlich selbstevidente Erde aus heutiger Sicht mit Timothy Morton gesprochen als „Hyperobject“ bezeichnen, repräsentiert in der globalen Aggregation oder der holistischen Manifestation.2 Alle diese Ansichten, so Ulrike, sind technische, mediale. Lokal erfahrbar ist die ganze Erde nirgends, und selbst vom All aus gesehen bleibt sie eine Momentaufnahme, ohne ihre immense zeitliche Dimension, die der räumlichen in nichts nachsteht. „‘Planetarisch‘ betrifft das Ganze und das Verhältnis vom Ganzen und seinen Teilen“ (S. 26). Und es berücksichtigt Kontingenz, wie Ulrike hervorhebt: „Der Planet ist nicht zwingend. Aber er ist auch nicht zufällig. Er ist der Standpunkt, der die Situiertheit des Denkenden verallgemeinert. Und als solcher ist er historisch und medial je verschieden“ (S. 27).

Epistemologie und Politik, so verstand ich Ulrikes Anliegen in ihrem Aufsatz, müssen zusammen gedacht werden. Der Planet des Planetarischen ist ebenso wenig wie die Welt und der Globus der Globalisierung ein politikfreier Raum, der sich von angeblich unpolitischen Naturwissenschaften vollständig beschreiben ließe (S. 24). Der Planet ist wie der Globus immer schon wissenschaftlich, technisch, politisch und ökonomisch vermessen, gerastert, verwaltet, reguliert und damit verfügbar gemacht. Er ist nicht nur der Gegenstand der Epistemologie und Politik, sondern auch ihr Effekt. Mit ihrem Aufruf zur Auseinandersetzung, zum Einmischen in die Praxis des Generierens des planetarischen Wissens, möchte Ulrike über allein aus Theorietraditionen erarbeitete Denkfiguren hinausgehen: „Sie sind schlau und sauber, aber sie gehen kein Risiko ein.“ (S. 21, Fußnote 17). Beispielhaft exerziert Ulrike diese Art der Einmischung am „customized globe“ (S. 38) von Google Earth und an den Verschiebungen im Verhältnis von Standpunkt, Subjekt und Bildtechnik, die mit den Operationen der Datafizierung des Planeten einhergehen, womit Ulrike über meine eigene Arbeit schon 2010 weit hinauswies. Der korporative datenförmige und zunehmend digitale Planet ersetzte das Raumschiff Erde, dass schon während des Kalten Krieges ausgedient hatte.

Kupferstich einer Landschaft mit einer Person, die das Planetarische überschreitet
Abb.: „Un missionnaire du moyen âge raconte qu’il avait trouvé le point où le ciel et la Terre se touchent.“ („Ein Missionar des Mittelalters berichtet, dass er den Punkt gefunden hat, wo sich Himmel und Erde berühren.“) Karikatur eines mittelalterlichen Weltbildes aus dem 19. Jahrhundert. Holzstich eines unbekannten Künstlers, zuerst veröffentlicht in Camille Flammarion, L’atmosphère: Météorologie Populaire, Paris 1888, S. 163. © gemeinfrei/public domain (urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen)

3.
Erst 2014 traf ich Ulrike selbst wieder, vermittelt ausgerechnet durch meine ehemalige Hamburger Kollegin Sybille Bauriedl, mit der mich seit unseren engagierten Auseinandersetzungen im Projekt eine lange Freundschaft verband. Wir besuchten uns in Hamburg und in Stockholm. Unvergessen sind eine „Kräftskiva“, ein rauschendes Flusskrebsfest im August 2014 in Stockholm und eine Stadtwanderung durch das Hamburger Hafenviertel 2016, bei der uns Sybille mit wie immer beeindruckender lokaler Kenntnis führte. Der letzte Besuch von Sybille und Ulrike in Schweden war im Sommer 2023. Diese Zeilen schreibe ich 2024 im tiefen Winter in den schwedischen Bergen, bei fast minus 20 Grad und einer Schneehöhe von 60 cm, während Deutschland und andere Teile Europas im Hochwasser versinken. Schnee wird in unseren Breiten immer mehr zur Seltenheit, bald vielleicht schon eine liebe Erinnerung, archiviert als Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Sollen wir solche wahrnehmbaren Veränderungen ignorieren, hinnehmen, uns anpassen, uns einrichten? Sollen wir versuchen, sie aufzuhalten? Wie wissen wir überhaupt, ob und wie sich unsere situativen, lokalen Beobachtungen zeitlich und räumlich verallgemeinern lassen?

Die alten Fragen waren nicht verschwunden. Wie auch immer wir uns verorten wollen, die politische Position lässt sich einmal mehr nicht von der epistemologischen Position trennen, um die Problematik eines Wissens von der Welt in den Blick zu nehmen. Aber wir haben es mit einer neuen Konjunktur zu tun. Im Anthropozän müssen wir selbst als kritische Wissenschafts- und Medienforscherinnen mit den Ressourceninventaren, Klima- und Energiekreisläufen der Erdsystemwissenschaften rechnen. Der planetare Überblick, gewonnen aus wissenschaftlichen Kartierungen, die historisch koloniale und imperiale Züge tragen, ist unabdingbar, wenn wir begreifen wollen, wie sich Umweltveränderungen zeitlich und räumlich entfalten, wie das langsame Schmelzen von Polkappen und Gletschern mit Phänomenen wie Orkanen, Fluten und Dürren statistisch zusammenhängen oder wie sie mit Artenverlust verbunden sind. Die Herausforderung liegt darin, uns der Abstraktionen des Globalen anzunehmen und den Zugang zur globalen Welt zu erhalten und zugleich auf dem Boden des Irdischen zu bleiben und den Ort wertzuschätzen, wie Bruno Latour es anmahnte.3 Der Klimawandel, der den Menschen den Boden unter den Füßen entzieht und immer mehr Menschen in die Migration treibt, erfordert eine Politik der Erde, eine neue geopolitische Organisation, die die alten nationalistischen und globalistischen Gefüge untertunnelt, Solidaritätsprinzipien nicht aufgibt und neue Wege sucht, um die Erde bewohnbar zu machen.

Ulrikes Fazit zum Planetarischen von 2010 lässt sich auch heute noch als Kommentar zur Verschränkung sowohl des disziplinären Wissens als auch der anthropozänen Skalen von Raum und Zeit lesen (S. 41): „Eine [... dem Planetarischen angemessene ...] Multiperspektivität in unsere perspektivischen Konventionen von Ich und Welt einzutragen, erfordert ebenso eine Exzentrizität des Wissens [... von der Welt ...] wie eine Reflexion der eigenen Situiertheit.“


  1. Ulrike Bergermann, Isabell Otto und Gabriele Schabacher (Hrsg.), Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter („Mediologie“ Bd. 23). München: Wilhelm Fink Verlag 2010. Darin Ulrike Bergermann, „Das Planetarische. Vom Denken und Abbilden des ganzen Globus“, S. 17–42.
  2. Timothy Morton, Hyperobjects. Philosophy and Ecology after the End of the World. Minneapolis: University of Minnesota Press 2013.
  3. Bruno Latour, Down to Earth. Politics in the New Climatic Regime. Cambridge: Polity Press 2017.