jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

Hinweis zur Nutzung

Protestperlen, die auf diesem Computer noch nicht besucht wurden, haben einen leuchtenden Schatten. Nach dem Besuch verschwindet der Schatten. So sind unbesuchte Protestperlen leicht visuell erkennen.
Der Speicher für besuchte Protestperlen kann über diesen Link zurückgesetzt werden. Danach leuchten wieder alle Perlen.

Ilka Becker

Bergermots

Eine kleine Hommage an kunstvolle Begriffe

Die Bergermannschen Texte zeichnen sich seit langem durch immer wieder neue und überraschende Begriffskreationen aus, denen hiermit ein eigener Ort gewidmet wird.

→ Dehnungstricks1 Das klingt vielversprechend. Bilden Dehnungstricks das taktische Gegenstück zur strategischen Flexibilität oder bieten erste Hilfe bei fortschreitender déformation professionelle? Nein, solche Ansätze helfen hier nicht weiter. Denn es geht bei der Instituierung dieses Begriffs um Medien, genauer gesagt um den frühen Film. Jedoch nicht um das Trägermaterial – auch wenn Zelluloid durchaus leicht form- und schmelzbar ist und dem Dehnen zugeneigt. Ulrike weist hier vielmehr auf die Stopptricks in den Filmen des Bühnen- und Verwandlungstricksters Georges Méliès hin. Genauer gesagt dessen Mann mit dem Gummikopf (L’homme à la tête en caoutchouk, F 1901). Besagter Gummikopf wird so lange mit einem Blasebalg aufgepumpt, bis er an die Grenzen des filmischen Frames zu stoßen scheint und platzt. Das Dehnungsmotiv, so folgert sie, diente Méliès dazu, trotz diskontinuierlichem Stopptrick die filmische Illusion kontinuierlicher Bilder zu erzeugen.

→ Flachsehen2 Hier wird es spekulativ, was die Auslegung der Wortschöpfung anbetrifft. Sie taucht einmalig in einer Zwischenüberschrift eines Textes über das Reality-Format der Casting-Show als → Selbstdrehtechnologie auf, dort als letztes Glied der Trias „Fernsehen, tiefsehen, flachsehen“. Die Anspielung an die sprichwörtliche „flache“ Fernsehunterhaltung steht im Wechselspiel mit der „Tiefe“ der Analyse komplexer gouvernementaler Herrschaftsverhältnisse. Ulrike setzt nämlich den bereits an der Anreise zur Casting-Show gescheiterten Kandidaten Oliver probeweise mit dem mathematischen Modell der Kleinschen Flasche gleich. Wie das? Indem sie die Fähigkeit der (Kleinschen) Casting-Flasche Oliver, sein eigenes Versagen glaubwürdig zu verkörpern, als Einstülpung des Außen ins Innere der Show und Ausstülpung des Innenlebens des Casting-Kandidaten nach Außen diskutiert. Die Kleinsche Flasche lässt sich folglich mithilfe eines Gitternetzes in eine Fläche zurückprojizieren und damit flachsehen.

→ Freaxploitation3 Hohe Kunst der Selbstreflexion. Ulrike stellt hier Überlegungen zu ihrer eigenen Praxis der Begriffskreation an. Zunächst setzt sie Christoph Schlingensiefs Casting-Show Freakstars 3000 mit den historischen Freakshows ins Verhältnis, die in meist abwertender Weise körperliche Devianz ausgestellt haben. Freakshow oder Freaxploitation? Man könne Schlingensiefs Praxis durchaus als Arbeit an der Wahrheit und Kritik verstehen, so Ulrike. Schlingensief selbst bleibe aber einer „fantasmatische[n] Form männlich besetzter Energie“ verhaftet. Und wie gelangt sie zum Begriff der „Freaxploitation“? Hier wird die Medialität der eigenen Forscherinnenpraxis eingespeist. Denn: Sie habe geglaubt, ihn erfunden zu haben. Und dann aber einen Treffer bei der Google-Suche gelandet. Ein diskursiver Authentizitätsmove in der Möbiusschleife des Schreibens.

→ Infra-Winziges4 Eine gewitzte – infragering verschobene – Übersetzung von Marcel Duchamps Konzept des inframince. Duchamp weist damit auf die hauchdünne, unzugängliche Differenz zwischen Form und Gegenform hin, oder auch auf die Vermählung zweier Gerüche, wenn „der Tabakrauch auch nach dem Mund riecht, der ihn ausatmet“. In ihren Überlegungen zu Karaoke schreibt Ulrike, Gesang sei zwar geradezu geschaffen für das inframince – wenn sich die durch verschiedene Stimmen qua Lufthauch erzeugten Melodien durch das Infra-Winzige verbindenKaraoke jedoch weise nicht das kritische Potential der winzigen Abweichung des Ähnlichen auf, das Duchamp zugeschrieben wird, eigne sich also nicht für das Spiel mit infrawinzigen Differenzen. Es mache vielmehr die Singularität der Stimme und die schwelgende Aneignung zum Programm – ohne, so lässt sich aus den Ausführungen folgern, im Supra-Gigantischen münden zu müssen. 

→ Karaokisches Lied5 Eine Wortschöpfung, die das dadurch markierte Lied von dem Vorbild, das gesanglich interpretiert wird, sprachlich unterscheidbar macht. Genau genommen realisiert sich das karaokische Lied erst in der jeweiligen Live-Aufführung mit den singulären  Dehnungstricks und der mehr oder weniger gelungenen Intonationsgymnastik der Stimmbänder, wohingegen das angeeignete Original in reproduzierter Form und immergleicher Qualität abrufbar ist. Gerade die Abweichungen und Unvorhersehbarkeiten beim Karaoke lassen es für die Feinheiten des à Infra-Winzigen ungeeignet erscheinen.

→ Kettenagenturen6 Lieblingsbegriff? Auf jeden Fall ein Favorit in seiner Sprödigkeit. Er lässt sich nicht umstandslos definieren, vielmehr setzt er einen ganzen Vorstellungsraum frei. Als Titel eines Textes, der sich mit Bruno Latours Fotografien in Brasilien auseinandersetzt, schwingen zahlreiche Nebenbedeutungen und weitgefächerte Assoziationen mit, die von Latours Operationsketten über gewaltvolle Fesseln und Regenwald-Rodungen bis hin zur institutionellen Logik von Agenturen reichen. Vor allem markiert der Begriff programmatisch die wichtige machtkritische und medientheoretische Kontextualisierung von Latours Aktanten-Netzwerk „Amazonasdschungel“ und macht seine konstitutiven Auslassungen sichtbar: Kolonialgeschichte und Ethnozentrismus, Geschlechterverhältnisse, die Medialität und Agency des Fotografischen – Faktoren, die seine Auffassung einer „symmetrischen Anthropologie“ lässig unterlaufen.

→ Selbstdrehtechnologien7 Bergermann platziert dieses triadische Kompositum in der Überschrift ihres Aufsatzes über Castingshows, von wo aus es sich dann (ohne dass der Begriff selbst weiter erwähnt würde) als Nachhall wie ein sanfter Wirbel durch den Text hindurchbewegen und Assoziationen anstoßen kann. Die Bedeutungen von Selbsttechnologien, Selbstbezogenheit (um sich selbst kreisen) und Spin Doctor überlappen sich in einer mehrfachen Überdrehung, die vermutlich keiner einfachen Rotationsbewegung folgt, sondern der im Text vorgestellten Topologie der Kleinschen Flasche mit ihren in sich verdrehten, endlosen Wendungen. Ein Versuch, das Kompositum etwas einzukreisen, ohne es stillzustellen: In Castingshows setzen die Kandidat:innen Selbstdrehtechnologien ein, um ihr als authentisch kodiertes Leben beim Dreh kongenial zu vermitteln und bildförmig hochzuschrauben, wobei sie diesen Produktionsmodus nicht verschleiern, sondern mit ausstellen.


  1. Ulrike Bergermann, „Morphing. Profile des Digitalen“, in: Petra Löffler/Leander Scholz (Hg.), Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln 2004, S. 248–272, hier 251–253.
  2. Dies., „Castingshows, Selbstdrehtechnologien, falsche Flaschen. Zur Sichtbarkeit von Drehmodellen“, in: dies., medien//wissenschaft. Texte zu Geräten, Geschlecht, Geld, Bremen 2006, S. 33–48, hier S. 37.
  3. Dies., „Freakstars oder Freaxploitation? Schlingensiefs ‚Freaks‘ und von Triers ‚Idioten‘“, in: dies., medien//wissenschaft, S. 123–151, hier S. 126.
  4. Dies., „Karaoke, Abstand und Berührung“, in: dies., medien//wissenschaft, S. 15–32, hier S. 20.
  5. Dies., Karaoke, Abstand und Berührung, S. 21.
  6. Dies., „Kettenagenturen. Latours Fotografien, Brasilien 1991“, in: Ilka Becker u.a. (Hg.), Fotografisches Handeln, Marburg 2016, S. 109.
  7. Dies., Castingshows, Selbstdrehtechnologien, falsche Flaschen, S. 33.