jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

Hinweis zur Nutzung

Protestperlen, die auf diesem Computer noch nicht besucht wurden, haben einen leuchtenden Schatten. Nach dem Besuch verschwindet der Schatten. So sind unbesuchte Protestperlen leicht visuell erkennen.
Der Speicher für besuchte Protestperlen kann über diesen Link zurückgesetzt werden. Danach leuchten wieder alle Perlen.

Nanna Heidenreich

„Die Wissenschaft steht vor einem Rätsel“
Lesbische Knäuel

Sich verknäulende Flusswelse, leicht bearbeiteter Screenshot aus "Globalisierung der Natur: Invasive Arten", ARTE 2023

Ich war ja nie eine Freundin von L-Word, mir waren deren Sozializäten einfach zu unterkomplex, zu konservativ, auch irgendwie subpar zu den echten messy Verwobenheiten lesbischer Gefüge. Aber ich fange trotzdem damit an. Im zweiten Teil der Pilotfolge der Serie entwirft die Figur der Alice „The Chart“. Wie Kira Deshler in ihrem Blog Paging Dr. Lesbian schreibt: „For those unfamiliar, The Chart is an extensive diagram that lays out all the (fictional) lesbians and bisexuals of Los Angeles, indicating how they are all connected to one another through various relationships or hookups. The ever-curious Alice created the chart in order to show how insular the lesbian community of L.A. is, and, while it’s initially drawn out on a whiteboard, her goal is to put it online.“1 Alice rahmt ihren Chart mit einer Wortwahl, die mich an das vermeintlich kritische Liebesgerede des niederländischen Performers Dries Verhoeven im Zusammenhang mit seiner vielfach und zu Recht kritisierten Performance „Wanna Play?“2 erinnert: „the point is we're all connected, see? Through love, through loneliness, through one tiny, lamentable lapse in judgment. All of us, in our isolation, we reach out from the darkness, from the alienation of modern life, to form these connections. I think it's a really profound statement about the nature of human existence.” Liebe als die wahre Verbindung der vereinzelten Menschen in der harschen modernen Gegenwart. Raus aus dem Dunkel der Einsamkeit, rein ins Licht der Zweisamkeit. Beziehungsweise der Öffentlichkeit.3 Während die lesbische Bloggerin Maddy Court darüber spekuliert, ob Alice damit Social Media erfunden habe, hat Verhoeven mit seiner Performance, in der er ohne Zustimmung der Beteiligten (nur bedingt anonymisierte) Chats auf Grindr öffentlich projiziert und diese zudem statt zu einem privaten Date an den Ort seiner Performance bestellt, einen Glascontainer am Heinrichplatz in Berlin-Kreuzberg, angeblich die Untiefen ebenjener Social Media Vereinsamung zur Sache seiner Performance gemacht: reale wahre Verbindungen (Tiefe!) statt der seichten Beliebigkeit digital organisierter dates. Beziehung statt Sex. Das kenn ich doch, denkt sich die alte Lesbe. Und denkt an Mairead Sullivans Überlegungen zum Lesbian Death, der die Lesbe seit den 1970ern heimsucht, als beständiges Betrauern ihres vermeintlichen Verschwindens.4 Sullivans großartiges Buch beinhaltet selbstverständlich auch ein Kapitel zum lesbian bed death, der natürlich allererst ein kategorialer/politischer Tod ist, weniger ein empirischer. Was und wie wird lesbischer Sex gezählt? Die Frage, wie sich lesbischer Sex artikuliert, ist hier doppeldeutig zu verstehen. Irgendwie schwankt die Datenlage in den 1980ern (der Dekade der sex wars) zwischen Spitzfindigkeiten à la Bill Clinton – die Demarkationslinie ist Penetration – und einer Art lesbischem Supergau durch die Erfindung des Begriffs der lesbian fusion, womit aber keine Rave Version von Michigans Womyn’s Festival gemeint ist, sondern der „urge to merge“5. Den Rest soll dann der Feminismus bzw. dessen Wandlungen erledigt haben. Oh well. Sullivans Buch lässt mich kalauern: wo andere nur einen „petit mort“ haben, hat die Lesbe Platz für einen ganzen Haufen.6

L-Word/Alice: 2004, Verhoeven 2014. 2024, Zeit für ein Update. Bzw. die Gelegenheit, einen unserer vielen Gesprächsfäden aus der Küche in Braunschweig aufzugreifen: Warum schreibt da niemand drüber? Darüber müsste doch eine mal schreiben? Hat da schon jemand drüber geschrieben? Ich will das lesen! Was Alice hier macht, ist – zumindest rudimentär – lesbische Gefüge in ihrer Verwobenheit anzuerkennen. Während schwules Leben als „homosexuelle Kultur“ zumindest in Begriffen wie schwule Sensibilität und als Praktiken wie Cruising publizistisch gerahmt wird (oder mit Sullivan die Marilyn Frye liest, „articulate“ ist7), bleibt das lesbische eine ewige Suchbewegung. Mindestens auch im Kontext von queerem Kino, wo es immer wieder die Frage gibt: wo bleibt das lesbische Filmemachen / wo geht es hin / wo ist es überhaupt zu finden? Ich behaupte seit Jahren: im politischen Kino, und in seinen Experimenten und Erweiterungen (Videokunst etc.).

Ich springe wieder zu lesbischer messiness: Esther Newton beschreibt in My Butch Career8 ganz schön, manchmal fast nebenbei, wie sich das Persönliche und das Politische auch in den Ex-Genealogien (also den Ex-Freundinnen, Ex-Geliebten, den Exen der Exes, die Schnittmengen, die sich bilden usw.) abzeichnet, den Verwerfungen, Gleichzeitigkeiten und der Unmöglichkeit, klare Trennlinien zwischen Freund*innenschaften und „wer mit wem“ zu ziehen. Sei es das Politische einer repressiven Umgebung, die lesbisches Leben in geteilte spezifische Räume zwingt und dieses Geteilte eben auch aus überschaubarer und verwickelter Sozialität besteht, sei es, dass durch das politische Bewegtsein Begehrensstrukturen entstehen, eine Bewegung, die mit ins Bett geht „My love for Louise was part of that ferment. We read the new lesbian feminist writing to each other in bed“, schreibt Newton.9 Diese Bewegungen bedeuten aber eben auch Aufbrüche: Trennungen, Neuverkettungen, neue Gefüge: „Louise was just breaking up with the architect Phyllis Birkby. We were each emerging from our closed lesbian circles. Just as I had been making the rounds of the Patsy–Nancy–Elizabeth gang, Louise, Phyllis, and Bianca had all been with one another. The lesbian world was poised to crack open into something much more exciting. You could feel it on the streets, at glf, and in the bars.“10 A propos bars. Irgendwann letzten Sommer, in Berlin auf der Straße vor „Möbel Olfe“, FLINTA Dienstag, wo der Altersdurchschnitt ungefähr bei der Hälfte meiner Jahre zu liegen scheint, schnappe ich ein paar Fetzen einer Unterhaltung über Dating-Strategien auf, in der die beteiligten Personen diskutieren, wie sie es hinbekommen, dass sie ihre Sex-Partner*innen getrennt halten.11 Ich hätte ja gerne gefragt, nach welchem Ethik-Code die Einhegung der messiness stattfindet und die Strategien blieben meinem neugierigen Ohr auch verborgen, dazu hätte ich nämlich offenlegen müssen, dass ich längst ein „heimliches Ohr“ (ich entwende hier einen bekannten lesbischen Buchreihentitel) gewesen war.

Aber warum sollen die lesbischen Sozialitäten eigentlich benannt und beschrieben werden? Ok, klar, um davon zu lernen. So wie wir auch aus den kollektiven Praxen politischer Bewegungen lernen. Aber schon der lesbian bed death ist weniger den realen Betten entstiegen als dem Versuch, das Lesbische als sozialwissenschaftliche Kategorie des Zählens und Gezähltwerdens „anzuerkennen“. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, wenn die sozialen Gefüge unintelligibel bleiben, wenn die „Wissenschaft vor einem Rätsel steht“, wie vor den Verknäulungen von Flusswelsen: „Ein unerklärliches Phänomen, bei dem sich gut hundert Welse aneinander reiben“. „Die Gründe für dieses Verhalten bleibt rätselhaft. Vielleicht festigt dies ihre sozialen Bindungen?“ Aber so wie die Welse sich auch sonst „nicht für Menschen interessieren“ und ihnen möglicherweise völlig egal ist, ob sie von diesen nurmehr als „gewöhnliche Art“ gesehen wird, als „ein Fisch wie jeder andere“, könnten die lesbische Ansammlung von Ex-en, von Freundschaften, schlicht, alle Arten von Verknäulungen und Reibungen, einfach eine geteilte Praxis in neuen (und alten) Gewässern bleiben, die sich um normative Gefüge, mit denen sie sich diese teilen, einfach nicht kümmern. Ich erkenne zumindest perimenopausale Ähnlichkeiten in den jeweiligen Barteln an Catfishes (Katzen! Dieser Text steht schließlich im Internet) und mir selbst12. Entscheidend ist alleine die Mehrzahl und die freudige Zusammenfügung. Mein Freund Marcus Held, Ökologe und Medienkünstler, hat mir anlässlich meiner ob dieses Textes ihm berichteten Begeisterung für unerklärliche Verknäulungen vom Phänomen der Rattenkönige berichtet. Die durch Schwanzverwicklung entstandenen Knäuel aus zumeist toten Ratten sind in zahlreichen naturhistorischen Museen zu finden. „[E]rnsthafte Versuche zur künstlichen Herstellung von Rattenkönigen schlugen bisher fehl“ so die Hamburger Zoologin Erna Mohr in ihrer Rezension zu einer „monographischen Studie“ zum Begriff und Phänomen von 1964, die mit der schönen Feststellung schließt: „Nur scheint soviel gewiß, daß stets die Anwesenheit von mindestens drei Tieren für das Zustandekommen erforderlich ist.“13


  1. https://kiradeshler.substack.com/p/the-l-chart-and-the-living-archive
  2. https://driesverhoeven.com/en/project/wanna-play/
  3. Dass die kritische Frage nach Liebe in den Zeiten des Kapitalismus auch anders gestellt werden kann, zeigt zB die Studie Warum Liebe Endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen von Eva Illouz; Frankfurt/Main: Suhrkamp 2020; oder auch das Theaterstück Everybody Needs Only You. Liebe in Zeiten des Kapitalismus von Konstanze Schmitt und Bini Adamczak, das am 06.12.2019 im Berliner Theater Hebbel am Ufer Premiere hatte, siehe https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/pdetail/schmitt-adamczak-everybody-needs-only-you/ sowie der Vortrag Adamczaks Liebe im Kapitalismus von 2016 an der Uni Darmstadt, der zum Ausgangspunkt für dieses Stück wurde, https://www.hebbel-am-ufer.de/programm/pdetail/liebe-im-kapitalismus/
  4. Mairead Sullivan: Lesbian Death. Desire and Danger between Feminist and Queer, Minneapolis: UP Minnesota 2022
  5. Sullivan S. 96; A propos Raving als queerer und trans Ort geteilter und aufgelöster Verkörperungen siehe McKenzie Wark: Raving, Durham/London: Duke UP 2023
  6. Sullivans Liste: Lesbischer Separatismus, lesbischer Sex,  lesbische Bars, die Lesbe als Solcher – und Killer Lesbians ...
  7. Sullivan, S. 97
  8. Esther Newton: My Butch Career. A Memoir, Durham/London: Duke UP 2018
  9. Newton, S. 146; zu meinem Vergnügen mit ihrer heterosexuellen Liebe Dominique wird das Buch im Bett dann Monique Wittig Le Corps Lesbien (1973), S. 213
  10. Newton, S. 145f
  11. Dass die jungen Hüpfer wieder unter Dykes firmieren, wäre ein eigener Text wert, aber da fehlt mir die empirische Datenbasis
  12. Globalisierung der Natur, ARTE 2023, Regie: Dominique Hennequin, Cyril Ruoso
  13. https://www.biodiversitylibrary.org/partpdf/191086