jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

Hinweis zur Nutzung

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Kerstin Brandes

Abbildung zeigt ein handgeschriebenes Schild an einem Geländer am Rand der documenta fifteen mit der Aufschrift: „Contemporary Art has been become outdated. The Flouraissance has begun!“
Floraissance, Kassel 2022, Foto: Kerstin Brandes

Liebe Ulrike,

ein handgeschriebenes Schild, befestigt an einem Geländer am Rande der documenta fifteen, erklärt die zeitgenössische Kunst für überholt und verkündet den Beginn der „floraissance“, eines – neuen – Zeitalters der Blumen. Was mir angesichts von Antisemitismus-Eklat und den Debatten um Kunstfreiheit und Verantwortlichkeiten ein spontanes freudiges Lächeln aufs Gesicht zauberte! Aus diesem Grund habe ich das Foto für dich aus meiner Fundstück-Sammlung herausgesucht, nachdem ich deinen Text über die Kolonialgeschichte und Gegenwart der Dinosaurier gelesen hatte.1 Die vielen Löcher, die das Ausgraben uralter Knochen mit sich gebracht hat, haben mich sehr nachdenklich gestimmt. Welche Löcher reißt die Gegenwart? Es werden „größte Saurierskelette“ ent-deckt – „das womöglich größte Dinosaurier-Skelett Europas“ in Portugal,2 „der größte und schwerste jemals entdeckte T-Rex überhaupt“3 in Kanada …, wahlweise „bisher unbekannte Arten“, z.B. in Südafrika,4 weltweit ungefähr 50 jedes Jahr.5 Zuletzt der Hype um Haut und Hirn – nicht „schrecklich“, schuppenbedeckt, in Grau und Braun, sondern farbenfroh im Federkleid und intelligenter als bisher angenommen. Der Paläontologe als Kriminalist, der den Knochen ihre Geheimnisse entlockt.6 Die Narrative scheinen sich in der gegenwärtigen Aktualität von Klimawandel, Artensterben und Kriegen kaum verändert zu haben.

Das Floraissance-Schild in Kassel ist möglicherweise nicht einfach ein Scherz. Dank Google-Suchalgorithmus fand ich auf NYU Local, dem unabhängigen Blog der New York University, einen schon 2016 erschienenen Artikel: “Floraissance, The Art Movement You Probably Haven’t Heard of (Yet).” Sätze ähnlich dem, der mir in Kassel beiläufig begegnet war, „are painted on pieces of plywood nailed to walls, hung on fences, and leaned against scaffolding all across the city. Maybe you’ve seen them. Maybe you haven’t. Either way, it’s worth paying attention, because this is the start of a new movement in the art world y’all, and it’s pretty groovy.” 7 Begründer sei der brasilianische Künstler André Feliciano, der sich inzwischen „art gardener“ nennt. Von der Fotografie her kommend und unzufrieden mit dem Begriff des Contemporary, das dem Wortsinn nach niemals endet und daher als epochale Beschreibung von Kunst ungeeignet sei, solle in Folge nun die Floraissance erblühen. … und das, durchaus im Wortsinn, auch mit Blumen – künstlichen Blumen, deren Köpfe aus kleinen, aus Kunstharz geformten Kameras bestehen und in Gartengewächshäusern bunt und üppig arrangiert sind.8 Ein die Debatten um Gegenwartskunst spurhaft anrührendes Projekt also, das, ästhetisch in die aktuelle Kunst-Gegenwart passend, popkulturelle, medienreflexive und „Natur“-Technik-Symbiosen befragende Facetten bespielt – und dabei farbenfroh und spaßvoll daherkommt. Dass die Ausrufung eines blumig-blühenden Zeitalters enttäuschenderweise nicht unbedingt auch eine Kunst im Zeichen von Öko-Katastrophen und neuen biodiversitätsbezogenen Naturverhältnissen meint, dieser Eindruck entsteht beim Durchblättern des Künstlerbuches,9 wenn der frisch gekürte Kunst-Gärtner zur Feier des Tages ganz unverblümt food-Fotos mit Fisch, Käse, Grill-Hähnchen, Hamburger-Patties und Spanferkel präsentiert, die mit in Kameraform geschnitzten Obst- und Gemüsestückchen dekoriert sind. – Eher umgekehrt lag es bei dem zweiten Fund, den Google bescherte. „Welcome to the Floraissance“ und „The Floraissance has begun“ sind die Titel zweier Ausstellungen des deutschen Künstlers Harald Hermann, die 2021 in Berlin und 2023 in Lissabon gezeigt wurden. Auf großformatigen collagierten Gemälden sind hyperrealistisch anmutende, (ur)waldige, von bühnenhaft arrangierten Artefakten menschlicher Existenz durchbrochene Landschaften zu sehen.10 Erläutert wird die Floraissance hier nicht weiter. Vielmehr scheinen allein Motivik, Machart und spezifische Farbigkeiten Grund genug, dass die Arbeiten von der Kunstkritik als Verhandlungen der Natur-Kultur-Dichotomie, als künstlerischer Sinnlichkeitsausdruck und als Plädoyer für mehr Demut angesichts der planetarischen Grenzen im Kontext von Klimawandel und Anthropozän-Diskussionen eingeordnet werden.11

Beide Entdeckungen sind eher unspektakulär und zeigen vor allem Funktionsweisen des gegenwärtigen Kunst(markt)-Diskurses. Aber könnte Floraissance – ein Name, von dem wahrscheinlich weder Paläontologie noch Critical Plant Studies wissen, – tatsächlich für ein Zeitalter der Blumen stehen, das dazu noch viel umfassender wäre? Und wäre das eine andere Geschichte? Der Meteoriteneinschlag, der vor 66 Millionen Jahren das Massensterben der Dinosaurier und des Großteils der damaligen Tier- und Pflanzenwelt zur Folge hatte, ermöglichte den Blütenpflanzen, den Angiospermen, sich auszubreiten, woraus dann auch die ersten Regenwälder entstanden. Bis heute machen Angiospermen fast 80 Prozent der Landpflanzen aus.12 Die Dinosaurier-Narrative setzen sich hier versuchsweise fort. Im Sprech kriegerischer Überlebenskampf-Rhetorik begann eine „Ära der ‚Flower Power‘“ [sic!], „übernahmen Blumen den Planeten“ und „eroberten […] die Erde.“13 – Doch war zunächst alles ganz klein. Lacinipetalum spectabilis wurde in Patagonien gefunden, ist 64 Millionen Jahre alt und hat eine Größe von ungefähr zwei Millimeter.14 Auch das zaubert mir ein freudiges Lächeln aufs Gesicht – vielleicht, weil Google dazu das wunderschöne Bild eines 20-fach vergrößerten Fossils anbietet, das in der Ästhetik eines Aquarells erscheint. Vielleicht aber auch, weil Floraissance das Einüben eines situierten Blicks sein könnte, der im Sorgen um die Löcher der Zeit und die Fadenscheinigkeit von Wissen immer auch ein Lächeln bereithält.

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

Kerstin


  1. Ulrike Bergermann: Deep Empire. Kolonialgeschichte und Gegenwart der Dinosaurier, in: Sybille Bauriedl, Inken Carstensen-Egwuom (Hg.), Geographien der Kolonialität. Geschichten globaler Ungleichheitsverhältnisse der Gegenwart, Bielefeld (transcript) 2023, 142-189.
  2. https://www.stern.de/panorama/wissen/natur/portugal--groesstes-saurierskelett-europas-entdeckt-32674570.html (zuletzt 31.10.2023).
  3. https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/dinosaurier-weltgroesster-t-rex-in-kanada-entdeckt-a-1259675.html (zuletzt 31.10.2023).
  4. https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/suedafrika-forscher-entdecken-riesen-dinosaurier-a-1230544.html (zuletzt 31.10.2023).
  5. https://www.tagesschau.de/wissen/forschung/dinosaurier-148.html, 04.06.2023 (zuletzt 31.10.2023).
  6. https://www.ardmediathek.de/video/ard-wissen/die-welt-der-saurier-1-siegeszug-der-federn/das-erste/, 05.06.2023 (zuletzt 31.10.2023).
  7. Amelia Wood: Floraissance, The Art Movement You Probably Haven’t Heard of (Yet). NYU Local, 09.09.2026, https://nyulocal.com/floraissance-the-art-movement-you-probably-havent-heard-of-yet-6f324a6dbf2a (zuletzt 31.10.2023).
  8. https://andrefeliciano.com/gardens (zuletzt 31.10.2023).
  9. https://files.cargocollective.com/c128289/Andre-Feliciano-Artist-BOOK.pdf (zuletzt 31.10.2023).
  10. https://haraldhermann.com/exhibitions/, https://movart.co.ao/pt/the-floraissance-has-begun-pt/ (zuletzt 31.10.2023).
  11. https://www.artsy.net/artwork/harald-hermann-welcome-to-the-floraissance (zuletzt 31.10.2023).
  12. https://www.nytimes.com/2023/09/12/science/flowers-dinosaurs-extinction.html (zuletzt 31.10.2023).
  13. https://www.stern.de/digital/technik/asteroid-toetete-die-dinosaurier--dann-uebernahmen-blumen-den-planeten-33840502.html (zuletzt 31.10.2023).
  14. https://www.nytimes.com/2023/09/12/science/flowers-dinosaurs-extinction.html (zuletzt 31.10.2023).