jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

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Sibylle Peters

Wege bahnen, nebeneinander herlaufen.

Um das Jahr 2000 fragte ich mich vor allem eins: War es möglich, das, was ich in den 90ern im Hamburger Philturm gelernt hatte, in eine experimentellere Praxis zu überführen und mit künstlerischen Verfahren zu verbinden? Vorbilder und Modelle dafür waren eher rar. Überall stieß ich auf Verbotsschilder: Die institutionelle Geisteswissenschaft verneinte. Mehrfach. Ich holte mir blutige Nasen vom gegen die Wand laufen.

Ulrike war so ziemlich die erste, die mir zeigte, wo’s lang geht: Erstmal nach Bremen ins Thealit. Die machten das nämlich schon anders. Da saßen Künstler*innen und Forscher*innen zusammen und erfanden, in weitgehender Abwesenheit der Autoritäten, mit denen ich meine Schattenkämpfe führte, etwas Neues. Da ging es um Tricks und Interventionen, um das Überdrehen, um Spinning, um Themen, die im gemeinsamen Behaupten eines anderen Ortes und Diskurses überhaupt erst Themen werden konnten, wie ich damals verstand. Medienwissenschaft, so insistierte Ulrike, war ein weiterer Ausweg aus dem Labyrinth der Autoren (sic) und Werke. Ulrike Bergermann statt Friedrich Kittler, so entschied ich damals, nachdem mir die Männerbünde den neuen technischen Materialismus schon fast wieder vergällt hatten.

In diesen Jahren der Ungewissheit und Prekarität, in denen wir Wege gehen wollten, die es erst zu bahnen galt, war es schön und wichtig, mit Ulrike ein Büro auf St Pauli zu teilen. Denn all das musste besprochen werden, regelmäßig, um den jeweils nächsten Schritt zu wagen – mutig, und immer darauf bedacht, den eigenen Impuls, die eigene Agency nicht aus der Hand zu geben, die Gegebenheiten zu drehen und zu wenden, bis wir irgendwie hindurch passten. Auf der anderen Seite dieser Wurmlöcher, die wir in diesen Jahren im Büro auf St Pauli jeweils in die Realität spannen, waren wir beide sehr beschäftigt, die gefundenen und erfundenen Praxen und Kontakte, Magazine und Institutionen zu entwickeln, die sich da auftaten. Die Zeit der wechselseitigen Einladungen und Kooperationen begann.

„Was ist ein Test? Dies ist ein Test!“ war der Titel von Ulrikes Beitrag in der Reihe „Forschen für Anfänger,“1 mit der ich das Forschungstheater einläutete, eine Institution, in der sich Kinder, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen als Forscher*innen begegnen sollten.2 Hier wurde untersucht, ob und wie Vermittlung qua Lecture Performance zu kollektiver Forschung werden kann. Ulrikes Vorschlag, kritisch und zugleich kreativ über Tests und das Testen nachzudenken, war einer der wirkungsvollsten Impulse dieser initialen Reihe und hallte nach im nachfolgenden Performanceprojekt „Kinder testen Schule“,3 aus dem wiederum Prozesse hervorgingen, die das Forschungstheater bis heute prägen. Umgekehrt lud uns Ulrike mit einer Lecture Performance des „Clubs der Autonomen Astronauten“ zur Konferenz über das Planetarische ein.4 Hier sammelten wir wichtige Tools für die unwahrscheinlichen, planetarischen Allianzen, die seitdem die Arbeit des Kollektivs geheimagentur prägen.

In den Büchern, die ich im Laufe dieser Jahre und oft im Kontext künstlerischer Forschungsprojekte herausgegeben habe, waren Ulrikes Beiträge zentrale Pfeiler der Forschung, nicht zuletzt, weil Ulrike immer dorthin schaut, wo der strukturelle Optimismus von Art & Activism umschlägt und vermeintliche Lösungen neue Probleme bringen.

Im Projekt Prognosen über Bewegungen stellte Ulrike unserem Vorschlag „to make use of future facts“ ihr „So wollen wir nicht vorhergesagt werden.“ gegenüber.5 Für „Das Forschen aller“ schrieb Ulrike den Essay „Occupy Wissen. Institutionalisierungsfragen zur Forschung aller“ und half uns damit nicht zuletzt die Weichen für das künstlerisch-wissenschaftliche Graduiertenkolleg Versammlung & Teilhabe so zu stellen, dass Demokratiebewegung und Forschungsbewegung einen gemeinsamen Ausfallschritt tun konnten.6 Für The Art of Being Many analysierte Ulrike die „Un/Easy Resonance“ des human microphones und zielte damit ins Zentrum des Problems von Repräsentation und Medialität, das uns in der Begegnung aktivistischer und künstlerischer Versammlungspraxis beim Kongress zur Kunst der Vielen auf Kampnagel 2014 intensiv beschäftigt hat.7

Dies alles erschien mir bis dato nur bedingt als vergangen, es war Teil der aktuellen Gemengelage. Während ich widerstrebend im Präteritum darüber schreibe, sitze ich immer noch im selben Büro auf St. Pauli. Und obwohl auch das Forschungstheater vor kurzem seinen 20. Geburtstag feierte, kommt die Zeit der Jubiläen und Rückschauen überraschend und gefühlt viel zu früh. Haben wir nicht gerade erst begonnen?

Was erlaubt uns die Praxis der Rückschau? Zumindest zu bemerken, dass die Wege, die wir gemeinsam zu bahnen begonnen haben, weiterhin nebeneinander herlaufen. Zumindest, sich auf anstehende Lektüren zu freuen. Denn während wir im Forschungstheater die Kolonialgeschichte des Zuckers aufgearbeitet haben, hat sich Ulrike mit Kakaogeschmack und kolonialer Ästhetik beschäftigt und bald erscheint das Buch dazu.8 Für die Ausgabe 1/24 der Zeitschrift für Medienwissenschaft ist ihr Beitrag über Klebstoff angekündigt, auf den ich mich freue – in der Hoffnung auf neue Denkimpulse für das neue Format der Klebeversammlung, das wir im Forschungstheater am letzten Weltkindertag erstmals erprobt haben. Oder auch für das neue Projekt über Sand als übersehenes Medium der Moderne.9

Und dann auch noch Dinosaurier – eine weitere im Forschen mit Kindern immer präsente Faszination, zu der uns bisher keine passende Forschungsfrage eingefallen ist. Vielleicht hat Ulrike sie gefunden?

Genug der Rückschau – voran. Weitermachen. Zusammenkommen. Reden. Tun. Zusammenkleben. Wir sind noch lange nicht fertig, noch lange nicht.

Foto von sechs Tuben Klebstoff, die auf grünem Untergrund liegen und deren Marken mit rotem bzw. grünem Klebeband überklebt sind.
Foto: FUNDUS THEATER

  1. Wie lässt sich Forschung anschaulich machen und wie können wir nach Möglichkeit direkt zusammen ins Forschen einsteigen? In dieser Vortragsreihe wird getanzt, gerätselt, getestet und der Müll der Nachbarbarschaft unter die Lupe genommen. Dabei stellt sich immer wieder die Frage: Wo wird Vermittlung wieder Forschung? Von S. Peters, mit: U. Bergermann, A. Chodzinski, M. Euler, G. Klein, F. Lampert, T. Macho, T. Meyer, S. Münte-Goussar, M. Pearson, H. Roms, J. Wiesel. November 2005 – Februar 2006, FUNDUS THEATER Hamburg.
  2. Das Forschungstheater ist 2003 als Teil des Hamburger FUNDUS THEATERs gegründet worden. Mittlerweile sind das FUNDUS THEATER und das Forschungstheater zum FT verschmolzen. Mehr Infos: fundus-theater.de
  3. Schulen testen Kinder. Aber wie könnten Kinder ihre Schulen testen? Künstler*innen und Kinder entwickelten gemeinsam Testverfahren. Im Rahmen einer interaktiven Performance wurden die Ergebnisse des Schultests präsentiert und weitere Tests live durchgeführt. Von und mit: S. Peters, M. Anton, F. Feigl, H. Kowalski, D. de Place, J. J. de Place, C. Witz. September 2008, FUNDUS THEATER Hamburg.
  4. Geheimagentur und Club der Autonomen Astronauten: Das Planetarische als Wunschproduktion. In: Das Planetarische. Kultur, Technik, Medien im postglobalen Zeitalter, hg. von Ulrike Bergermann, Britta Dümpelmann und Gabriele Schabacher, Fink: München 2010, S. 117–138.
  5. Ulrike Bergermann: So wollen wir nicht vorhergesagt werden. Ein Kommentar zu einzelnen Prognosen über Bewegungen, in: Prognosen über Bewegungen, hg. von Gabriele Brandstetter, Kai van Eikels und Sibylle Peters, Berlin 2009, S. 333–335.
  6. Ulrike Bergermann: Occupy Wissen. Institutionalisierungsfragen zum „Forschen aller“, in: Das Forschen Aller. Artistic Research zwischen Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft, hg. von Sibylle Peters, Transcript: Bielefeld 2013.
  7. Ulrike Bergermann: Un/Easy Resonance. The Critical Plural, in: The Art of Being Many. Towards a New Theory & Practice of Gathering, hg. von geheimagentur, Martin Schäfer und Vassilis Tsianos, Transcript: Bielefeld 2016.
  8. Ulrike Bergermann: Kakaogeschmack. Koloniale Ästhetik und kollektive Taste Tanks. August Verlag: Berlin 2024
  9. Mehr Infos: fundus-theater.de