jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

Hinweis zur Nutzung

Protestperlen, die auf diesem Computer noch nicht besucht wurden, haben einen leuchtenden Schatten. Nach dem Besuch verschwindet der Schatten. So sind unbesuchte Protestperlen leicht visuell erkennen.
Der Speicher für besuchte Protestperlen kann über diesen Link zurückgesetzt werden. Danach leuchten wieder alle Perlen.

Judith Keilbach, Markus Stauff

Auf dem Titel des Büchleins "Experiments in Television" ein Schwarz-Weiß-Foto mit zwei Kameras und mehreren Kindern

Experimente

Experiments in Television – so heißt ein Büchlein von gerade einmal 64 Seiten, das Ulrike uns bei einem Besuch vor sehr vielen Jahren als Geschenk mitgebracht hat (Tony Gibson, 1968).1 Es ist zu lange her, um noch zu erinnern, wo es ihr in die Hände fiel; in jedem Fall ist es ein Beispiel für Ulrikes konstantes Mitdenken der Themen und Interessen von anderen, das vor allem dadurch alternative Beziehungen knüpft, dass es quer zu vordefinierten Themen und Gruppen geht. Nicht regelmäßig, aber eben immer wieder kommen Emails, die an wechselnde Konstellationen von Leuten einen Song, eine Tagung, eine Petition verteilen.

Reflexionen

Festschriftlichkeit, gedruckt oder online, verstärkt beinahe unvermeidbar die symbolische Kapitalisierung des akademischen Arbeitens und Lebens: Eine Vielfalt an Gesprächen, Gedanken, Texten werden zum “Werk” einer Autorin; deren Würdigung wird zum #howcanwemakethisaboutus (oder zu dessen zwanghafter Vermeidung). Wie lassen sich in diesem Rahmen andere, nicht-klassifizierte Formen von kinship häkeln?

Experiments in Television wurde für uns 2011 zum Ausgangspunkt eines Aufsatzes (#howcanwemakethisaboutus).2 Dieser Aufsatz diskutierte vor allem die (im engeren Sinne) technischen Refigurationen medialer Elemente im Kontext von Schul- und Bildungsfernsehen. Bei einer Relektüre des Büchleins, die sich erstmal ganz unparanoisch an der Oberfläche der vielzähligen Abbildungen orientiert, fällt auf, wie sehr Ulrikes Praktiken des Beziehungsknüpfens nicht nur im Akt des Schenkens, sondern auch im „Inhalt“ des Geschenks praktiziert werden:

Etwas im Vorhinein aufzudecken und zu reflektieren, durchquert nicht dessen Wirkung, sondern tendiert eher zu einem zynischen “wir wissen es – und trotzdem”, das vor allem die eigene Aufgeklärtheit als Abgeklärtheit signalisiert. Uns soll es hier aber helfen, mit paranoidem Schreiben umzugehen – einem Schreiben, das, in Anlehnung an Eve Sedgwick (2003),3 allein noch darauf zielt, die Dinge, die es aufdecken und somit kritisieren möchte, nicht selbst zu tun.

Tony Gibson: Experiments in Televison. London 1968, S. 23

Die rund 25 Abbildungen in Experiments in Television zeigen – neben einigen Darstellungen von technischen Aufbauten – vor allem Fotografien, die Technik im didaktischen Einsatz vorführen. Dem paranoid motivierten Blick fällt auf, dass eine Frau für die Fernsehkameras das Arbeiten an der Nähmaschine erläutert und eine andere vor mehreren Kameras von einem Mann frisiert wird, wobei die Bildunterschrift die Vorteile unterschiedlicher Kameraperspektiven so unterstreicht: „To understand the craft one must see it from the craftman’s viewpoint.“4 Ein Mädchen präsentiert der Kamera ihr Puppenhaus, während drei Jungs einen toten Vogel sezieren. Sieben der Fotos zeigen aber auch Frauen (bzw. ein Mädchen), die aktiv mit Kameras und Mischpulten hantieren und technisch-didaktische Situationen arrangieren. Die heteronormative Kopplung zwischen Weiblichkeit und Erziehung/Schule ermöglicht es hier, Technik zu entmännlichen. Kinder – verschiedenen Geschlechts – sind ebenfalls nicht nur als regulierte Objekte, sondern auch als Arrangeure der medialen Feedback-Schleifen zu sehen. Zudem lassen sich Parallelen zwischen dem Puppenhaus und der Abbildung eines mit Kamera ausgestatteten „model classroom“5 erkennen. Dieser wird zwar wiederum in der Bildunterschrift als „typical arrangement of the ‚one man‘ television observation unit“ beschrieben –aber welche Valenz hat ‚one man‘ hier angesichts der Fotos von nicht-männlicher Kameraführung? (Siehe auch Abbildung)

Uns scheint es kennzeichnend für Ulrikes Tun – politisch, akademisch, alltäglich –, dass sie das paranoide Schreiben angesichts der allgegenwärtigen, hierarchisierenden und oft tödlichen Klassifikationsregimes konstant praktiziert. Zugleich kombiniert sie dies aber (so wie Sedgwick es für das paranoide Lesen einfordert) mit vielen anderen Modi, wie etwa dem „reparativen Schreiben“, das alternative, nicht-hegemoniale Dynamiken aufspürt.

 

Wenn wir hier ein solches „reparative reading“ riskieren, dann vor allem, weil wir Ulrikes „Werk“ als ein anhaltend experimentelles Lernen und Unterrichten erfahren, in dem Technik im besten Sinne paranoid auf ihre binarisierenden und hierarchisierenden Möglichkeitsbedingungen und Effekte befragt wird, in dem aber zugleich Kulturtechniken aller Art (Fragen stellen, Email, Vortrag, Syllabus, Kuchen essen) so produktiv zur Bildung querliegender Beziehungen eingesetzt werden, dass paranoiafreie Momente möglich sind. Die scharfe Frage, ob dies oder das ein gut gewählter Moment ist, um die Paranoia schleifen zu lassen, hören wir dabei natürlich auch.

Wir, die wir weniger in Dekonstruktion geschult und weniger in reparative practices aktiv involviert sind, flüchten uns in die explizite Reflexion. Diese fungiert hier somit (um Fredric Jamesons Relationierung von Verschwörungstheorien und cognitive mapping aufzugreifen) als „poor persons‘ (non-) paranoid writing“.6

Denn: „we prefer not to“, was sonst immer eine Option sein kann (deren Ambivalenzen mit Ulrike schon vielfach diskutiert wurden), war diesmal definitiv keine … oder wahrscheinlich präziser: während es gerade hier eine hätte sein können, hätte sich dann umso mehr die Frage gestellt, warum sie gerade in diesem Fall gewählt wurde.

 


  1. Tony Gibson: Experiments in Television. London 1968.
  2. Keilbach, Judith, and Markus Stauff. 2013. “When Old Media Never Stopped Being New. Television’s History as an Ongoing Experiment.” In After the Break. Television Theory Today, edited by Jan Teurlings and Marijke de Valck, S. 79–98. Amsterdam: Amsterdam University Press.
  3. Eve Sedgwick: Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You. In Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity. Durham: Duke University Press 2003, S. 123–152, https://doi.org/10.1515/9780822384786-007.
  4. Gibson 1968, S. 50.
  5. Gibson 1968, S. 29.
  6. “Conspiracy, one is tempted to say, is the poor person's cognitive mapping in the postmodern age (…)”, Fredric Jameson: “Cognitive Mapping.” In Marxism and the Interpretation of Culture, hg. v. Cary Nelson und Lawrence Grossberg, S. 347–60. Urbana: Univ. of Illinois Press, 1990, S. 356.