jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

Hinweis zur Nutzung

Protestperlen, die auf diesem Computer noch nicht besucht wurden, haben einen leuchtenden Schatten. Nach dem Besuch verschwindet der Schatten. So sind unbesuchte Protestperlen leicht visuell erkennen.
Der Speicher für besuchte Protestperlen kann über diesen Link zurückgesetzt werden. Danach leuchten wieder alle Perlen.

Martin Jörg Schäfer

Ulrike unter den „many“ 

Im September 2014 waren Ulrike Bergermann und ich Teil der Kunst viele zu sein, Teil von „The Art of Being Many“: Das Hamburger Performance-Kollektiv geheimagentur initiierte mit dem der künstlerischen Forschung gewidmeten Graduiertenkolleg „Versammlung und Teilhabe“ der HafenCity Universität Hamburg in der Internationalen Kulturfabrik Kampnagel eine „Versammlung der Versammlungen“. Der Initiative und konzeptionellen Vorarbeit von Sibylle Peters und Vassilis Tsianos folgend wollten sich Künstler:innen, Aktivist:innen (unter beiden auch viele „Artivists“), Forschende und andere Teilnehmende aus Europa und jenseits von Europa über Erfahrungen aus den „Real Democracy“-Platzbesetzungen der frühen 2010er Jahre und den im 21. Jahrhundert verstärkt stattfindenden künstlerischen Experimenten mit dem Versammeln austauschen. Diese Versammlung war als eine endurance performance konzipiert, in der das Versammeln nicht nur diskutiert und praktiziert, sondern auch mit seinen Arten und Weisen experimentiert wurde: letztlich als Reflexionsraum für das, was „Demokratie“ ganz materiell bedeuten könnte.

Zeichung von Enrique Flores beim "The Art of Being Many"-Kongress, September 2014 in Hamburg
Zeichung von Enrique Flores beim "The Art of Being Many"-Kongress, September 2014 in Hamburg

In der riesigen Vorhalle des ehemaligen Kampnagelfabrikgebäudes wollte diese Versammlung zum Laboratorium ihrer selbst werden. Zwei halbe Tage dauert sie von Mittag bis Mitternacht; zwei Tage zuvor verständigten sich größere Gruppen über die Slots, die sie bespielen wollten. Ulrike und ich, beide beim Graduiertenkolleg als Ko-Betreuende einzelner Arbeiten assoziiert, waren Teil der lokalen Hamburger Groß- und Kleingruppen, die über ein Jahr lang das Ereignis vorbereitet hatten und mit den Gästen per E-Mail, Telefon und Skype in Kontakt standen, aber auch in Unterarbeitsgruppen und Lesezirkeln das Thema umkreisten. Einige Leute sah man immer wieder; ständig tauchten neue Leute auf – oder scheinbar neue Leute, die schon die ganze Zeit in anderen Teilgruppen dabei waren. Es war auf unendlich anstrengende und unendlich schöne Art anders als die akademischen Versammlungen, an die ich mich das letzte Jahrzehnt gewöhnt hatte (universitäre Gremienarbeit, Seminare, Konferenzen etc.), aber mit weniger Schwere als konkreteres politisches und soziales Engagement.

Ulrike hatte sich in der Zeit unter anderem mit der Forderung von Marina Garcés nach einer „embodiment of critique“ auseinandergesetzt. Sie konnte immer sehr präzise artikulieren – und so viel schneller und präsenter als ich –, wo die Reibungen zwischen Polit-Aktivismus, Performance Kunst, Wissenschaft und der uns alle antreibenden Hoffnung auf eine andere Gesellschaft Funken produzierte, wo alle anderen nur anstrengenden Leerlauf sahen. Das war immer mehr und anderes als die Sicht von jemandem, die in den Gemäuern der bundesdeutschen Unis und Akademien sogenannte Geistesarbeit betreibt. In eine solche Situierung bringt Ulrike ja immer ihr Sein in der Welt und ihre Geschichte mit: die des eigenen Engagements innerhalb und außerhalb dieser Mauern und das daraus erwachsene Interesse an den Schichten, aus denen sich unsere politische, mediale und körperliche Gegenwart zusammensetzt. Ulrike legt den Finger immer wieder an die Stellen, an denen solche diskursiven und medialen Schichten sich ineinanderfügen oder hart gegeneinanderprallen; gerne mit Bezug auf die Art, wie ‚wir‘ ‚uns‘ ‚unsere‘ Gegenwart imaginieren, und immer mit der Frage, wo das genealogisch herkommt. Die Frage nach den ‚vielen‘ einer „Art of Being Many“ wird hier immer schon mitverhandelt. Das ‚Ich‘, als das Ulrike hier interveniert, spricht oder schreibt aus einer Bedingtheit, die es mit vielen anderen teilt – nicht unbedingt harmonisch, sondern so kakophon wie diese Bedingtheiten. Ulrike ist in der Lage, das so zu sagen (und zu schreiben), dass die jeweilige Verkomplizierung schlagartig evident wird, ohne darum weniger kompliziert zu sein.

So auch bei der „Versammlung der Versammlungen“. Ulrike war, so meine ich, in der Gruppe, die sich an „sound, systems and voices“ in Versammlungen abgearbeitet hat. Ihr ging es um das Versprechen der „Human Microphone“-Technik, mit der bei „Occupy Wallstreet“ und anderswo, ohne medientechnische Apparatur, die einzelne Stimme durch unisono-Nachsprechen übertragen werden konnte. Eine Rede oder ein Austausch könne so zum Gemeinschaftsereignis werden, hieß es damals oft. Häufiger an jenem Wochenende äußerten Teilnehmende ‚unserer‘ Versammlung dann das Unbehagen, eben dieses würde fehlen. Sie würden sich nicht in der Gruppe aufgehoben fühlen. Und für das Versammlungserlebnis mit vielen Gleichgesinnten wären sie doch gekommen. Angeregt durch Sibylle und Vassilis hatten ‚wir‘ aber einen Versammlungsraum gebaut, in dem es jederzeit möglich war, sich ein- und auszuschalten. Es gab Kopfhörer mit zwei Tonspuren, eine davon immer ein musikalischer Entspannungskanal. Alle konnten auch von außerhalb der Halle an einem sehr heißen Sommertag zuhören. Alle konnten sich in der Halle aufhalten – aber trotzdem abwesend bleiben. Für einige der ‚many‘ wollte bereits vom medialen Setup her ein „sense of community“ nicht aufkommen. Lange ist es her, aber ich meine, es gab mindestens zwei Gelegenheiten, an denen Ulrike zu eben dieser Thematik sehr kurz und konzise gesprochen hat. Einmal mit Mikro in der großen Halle für diejenigen, welche dem entsprechenden Kanal gelauscht haben, einmal ohne Mikro in einem kleineren Kreis als eine Stimme in der Polyphonie der Versammlung. Ohne belehrend zu sein, stand damit eine andere Lesart des medialen Setups im Raum. Niemandem wurde die Sehnsucht nach einem „sense of community“ abgesprochen. Aber eine „art of being many“ verbindet die vielen nicht zu einer Einheit, sondern verhandelt ihre Abstände und komponiert auf vielfältigen Wegen ihre Kakophonie. Im letzten Satz ihres Beitrags zur späteren „The Art of Being Many“-Publikation ist das auf Ulrike unvergleichliche Weise auf den Punkt gebracht: „[B]ecoming the many does not necessarily sound like a song. I beg your pardon: The assembly never promised me a rose garden – But many roses.“ [Ulrike Bergermann: Un/Easy Resonance. The Critical Plural. In: geheimagentur, M.J. Schäfer, V. Tsianos (Hrsg.): The Art of Being Many. Towards a New Theory and Practice of Gathering. Transcript Verlag. Bielefeld 2016, S. 103-116, hier S. 114.]

(c) Fotos Martin Jörg Schäfer