jauchzen ächzen andersmachen

für ulrike bergermann

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jauchzen ächzen andersmachen

„Protestperlen“ ist ein Geschenk für Ulrike Bergermann zum 60. Geburtstag.
Mit „Protest“ und „Perlen“ scheinen uns die vielfältigen Relationen treffend charakterisiert, die Ulrike mit Menschen aus unterschiedlichsten Feldern verbindet.
Gemeinsam jauchzen wir, ächzen wir und gemeinsam wollen wir Dinge andersmachen!
Um Ulrike und ihre Großartigkeit zu feiern, haben wir Freund*innen und Kolleg*innen eingeladen Perlen für diese Website beizutragen – Euch allen sei herzlich gedankt!

Initiative, Idee, Konzept und Koordination:
Andrea Seier, Christine Krischan Hanke, Henriette Gunkel, Nanna Heidenreich, Sybille Bauriedl.

Graphisches Konzept, Layout und Umsetzung:
Fritz Laszlo Weber.

28.02.2024

Mit Beiträgen von

Hinweis zur Nutzung

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Ute Holl

Ein Hörgerät von der Grösse der Sonne
George E. Lewis’ Memex für Sinfonieorchester (2014)

As we may hear. Als seien unsere Ohren in die Röhren eines grösseren Radios geraten. Als könnten wir hören, wie Röhren kommunizieren. Oder sässen im Feld der Transistoren und nähmen deren Übertragungen wahr. Als könnten wir die Dinge hören, am Ort, wo sie aus Spannungsverhältnissen zu Schwingungen werden. Als könnten wir alle Dynamiken intraaktiver Materie hören und die Effekte ihrer fortlaufenden Rekonfiguration. Wir hören so, als habe sich alle Intelligenz zurückgezogen in die Dinge der Welt, von woher sie wie aus der Ferne (ok, so nah sie sein mag!) auf uns wirkt. Plötzlich könnten wir hören, als seien wir Teil dieser Welt. Wer aber wäre "wir"? Und wer hätte je die Welt geteilt?

Wir ist ein bürgerliches Publikum. Geordnet auf Stuhlreihen vor der Basel Sinfonietta, die it ihren Instrumenten auf der Bühne sitzt. Gespielt wird ein Stück nach Noten (Edition Peters), das klingt, als seien die Trümmer eines Voders, irgendwie verschaltet mit den Trümmern eines Vocoders, gegen Abend ins Hafenbecken von Chicago gefallen, während ganz in der Nähe ein Art Ensemble auftritt, dann mit einem Jackson aus dem Haus geht, und mit neuen Instrumenten sehr alte Klänge spielt. Ancient to the Future. In Chicago, wo er herkommt, hat George E. Lewis, Posaunist, Composer, Performer, Geschichtenerzähler und Musikhistoriker, das Art Ensemble of Chicago 1969 zum ersten Mal gehört. Er erinnert sich an einen "onstage forest of bright, brassy saxophones, oddly shaped horns, and strange percussion instruments, amounting to literally thousands of sound-making devices, expressed a methodology of ‘multi-instrumentalism’, with multiplicities of timbre animated by the squeals and raspberries from trumpeter Lester Bowie; the ominously painted face of bassist Malachi Favors Maghostous, unwinding long strings of melody and timbre; Joseph Jarman stalking the stage, perhaps naked to the waist; and Roscoe Mitchell, contentedly puttering about in a secret garden of percussion."1 500 verschiedene Instrumente auf der Europa Tournee 1969, darunter: Fahrradglocken, Hupen, Birthday Party Noisemakers. An all das erinnert George E. Lewis in seinem Stück Memex for Symphonic Orchestra, geschrieben für das BBC Scottish Symphony Orchestra, 17 minutes in one movement, ein Satz, der Bewegung in alle Richtungen loslässt. Es erinnert an afroamerikanischen Jazz, Avantgarde, Free Jazz. Frei. Aber nicht von Geschichte. Und wie diese Musik die Verhältnisse mit Haut, Masken, Atem zum Vibrieren gebracht hat. Rhythmen durchschossen von Trompetenstössen. Zum Tanzen gebracht? Wen? Wer könnte? As we may dance.

Montage George Lewis Memex

Die geheimen Gärten der Geräusche sind 25 Jahre später in George E. Lewis’ Memex strategisch angelegt. Die Klangfarben von Cornet, Shofar, Conch Shelles, Banjo und Bass Guitar, von viel Percussion, Elektronik und Computermusik, von Verschaltungen, Synthesizern und Improvisationen, die, wie Joseph Jarman meinte, das ganze Universum repräsentierten, hat George E. Lewis zurückübersetzt in die Instrumentierung eines, naja, klassischen Orchesters. Europäische Instrumente, keine Muscheln. Aber ein gigantisches Spektrum an Klang. Die Basel Sinfonietta spielt, virtuos, diese komponierten Erinnerungen an Klangfarben. Es sind auch Erinnerungen überhaupt an Experimente der Association for the Advancement of Creative Musicians. Den Musikern der AACM, kaum Musikerinnen darunter, hat Lewis ein dickes Buch gewidmet, A Power Stronger Than Itself. Rückgekoppelte Synergie. Very Black Power. Oder eher Black Cybernetics. Das kommt aus Chicago, dem Hafen, den Studios, den Häusern voller Jacksons. Mit den Leuten von der AACM hat sich Lewis seit 1975 nicht nur der live electronic music, sondern auch der Erforschung von Computern gewidmet, die er so programmiert, dass sie mit menschlichen Musiker:innen improvisieren und interagieren können. Könnten. Wollten. As we may play. Ein Memex für ein afroamerikanisches Klanguniversum. Darin werden Ideen "about timbre, sound, collectivity, extended technique and instrumentation, performance practice, intermedia, the relationship of improvisation to composition, forms, scores, computer music technologies, invented acoustic instruments, installations and kinetic sculptures"2 zusammengesetzt, um Grenzen zwischen Körper, Materie und Instrumenten durchlässig zu machen und das, was Mensch, was Schönheit oder Intelligenz sein könnte und was Musik weiss, zu rekonfigurieren. In Memex komponiert Lewis alle jene ungeheuren Kräfte zurück ins Sinfonieorchester, das sie spielt. Oder, so hört es sich für uns an, das von diesen Kräften gespielt wird. Falls es noch "wir" sind, die hören. Ein afroamerikanisches Sound-Archiv, komponiert für die BBC, interveniert ins Feld Neuer Musik. Mit neuen Klangfarben, mit dem Geräusch von Veschaltungen und Übergängen, und erzeugt andere Formen der Sozialität. Lewis setzt auf kontaminierendes Hören. Und auf Dekontamination europäischer Ohren, kolonialer Musik der Konzerthallen.

Im Memex rekurriert George E. Lewis ausgerechnet auf den kalten Krieger Vannevar Bush, der 1945 seine technofuturistischen Momente hatte, von Kräften träumte, die stärker waren als er selbst und weniger Energie verbrauchten als Kathodenstrahlen um Bilder oder Klang zu erzeugen. In seinem Artikel "As We May Think" für die Friedensausgabe Juli 1945 des weissen Atlantic Magazine schreibt Bush von den vielen neuen Geräten, Instrumenten vielleicht, die das Nachkriegsleben und Nachkriegsdenken schöner machen würden: "thermionic tubes capable of controlling potent forces under the guidance of less power than a mosquito uses to vibrate his wings, cathode ray tubes rendering visible an occurrence so brief that by comparison a microsecond is a long time […] A spider web of metal, sealed in a thin glass container, a wire heated to brilliant glow, in short, the thermionic tube of radio sets, is made by the hundred million, tossed about in packages, plugged into sockets—and it works!"3 Far out, in die Ferne, zur Sonne und zurück, kurz vor August 1945. Und weil das Wissen der Welt sich schon in Strahlungen, Schwingungen und Ströme aufgelöst hat, lässt es sich, weiss Bush, auch als solche prozessieren. Die Intelligenz der Geräte lässt sich auf die elektrischen Stromkreise im Kopf übertragen: "In the outside world, all forms of intelligence whether of sound or sight, have been reduced to the form of varying currents in an electric circuit in order that they may be transmitted. Inside the human frame exactly the same sort of process occurs."4 Innerhalb und ausserhalb menschlicher Parameter dieselben Prozesse der Übertragung. Im Rahmen des Menschlichen. So, könnten wir denken, funktioniert auch die Musik der AACM und der Afrofuturismus überhaupt und auch Lewis’ Memex: Neue Intelligenz von aussen mit den alten Köpfen verschalten, die alten Köpfe mit den neuen Stromkreisen kurzschliessen. Bush, aus dem Haus der Krieglaboratorien, geht es mithilfe der vielen neuen und sehr kleinen Devices freilich zuerst um Kontrolle. Kontrolle von Sein, von Mikrosekundendauer und von Wissen. Jeder und auch jede soll persönlich so einen komprimierten und komprimierenden Wissensextender haben: "Consider a future device for individual use, which is a sort of mechanized private file and library. It needs a name, and, to coin one at random, "memex" will do." Wissen wird zurhanden und vernetzt sein und der Kopf im Rahmen des Menschlichen ein Relais und Weiterverteiler.

Wie in den Geschichten der gemeinen Wunscherfüllung, die Freud so gerne erzählt, haben wir die Dinger jetzt in den Taschen, zur Hand, am Ohr, im Kopf, und können uns oder was "wir" wäre vom Memex nicht mehr trennen. Da setzt das Stück von Lewis an und das Konzert. Was sein Memex erinnert, macht uns den eigenen Ohren fremd. Schneidet uns ab von den kulturellen Rahmungen Moderne und Avantgarde. Reklamiert neue Musik für neue Positionen. Situationen. Gedächtnisse. Elektronik und Computer und die vielen Kräfte, die, rückgekoppelt oder sozial geteilt, stärker sind, liessen sich, lässt Lewis hören, vielleicht auch anders einsetzen als ein Bush-Krieger es wollte. So wie jeder metallene Trompetenstoss Lester Bowies die ganze Welt dazu bringt, den Atem anzuhalten. Die Soundsysteme, die Lewis orchestral zusammensetzt, erzeugen neue Subjekte, ohne Rücksicht auf die bürgerlichen, die in seinem Konzert aktuell versammelt sind:

"Interactions with these systems in musical performance produce a kind of virtual sociality that both draws from and challenges traditional notions of human interactivity and sociality, making common cause with a more general production of a hybrid, cyborg sociality that has forever altered both everyday sonic life and notions of subjectivity in high technological cultures."5

Ein Cyborg für 17 Minuten. In der musikalischen Interaktion mit Maschinen gehe es um eine radikale Verflüssigung von Identitäten, schreibt Lewis dazu: "At the moment at which musical improvisation with machines enacts this radical fluidity of identity what we have is not a simulation of musical experience but music making itself — a form of artificial life that produces nonartificial liveness."6 Wo "wir" war, soll was lebendig werden. Dank der Erinnerungsmaschinen, der Musikmaschinen.

Wie lebendig ist ein Sinfoniekonzert? Welche sonischen Erinnerungen macht es wach? Welche sonischen Erfahrungen? Ob sich afroamerikanische Erfahrung, Avantgardejazz, übertragen lässt, wird im Stück Memex verhandelt. Lewis reklamiert den Anspruch aufs Ganze, das weder Universalismus noch Universum ist. Die Sinfonietta spielt alle Klänge des Übergangs vom mechanischen ins elektronische Zeitalter, das ganze Spektrum der tiefsten Vibrationen, die wie Maschinen stampfen oder, Basstuba und doppeltes Kontrafagott, wie Schiffshupen klingen, im Hafen von Chicago oder Hamburg oder eben auf dem Atlantik. Dagegen sind sehr hohe Töne setzt, ein leises Quietschen, Holz an Holz, oder metallen, und auf den höchsten Saiten simuliert die Höhen einer beinahe Rückkopplung, als wenn Lautsprecher und Mikrofon, oder Voder und Vocoder, wie auch Vannevar Bush es träumte, zu dicht zusammenliegen, während überall die Wälder und Gärten der drei Percussion-Gruppen wuchern, als Agencements, ein Wort, das Lewis von Deleuze nimmt und dreht und wendet bis es zur virtual sociality wird. Musik. Ziemlich neue Musik. In deren Materie die Virtualität einer anderen Verteilung der Klänge der Welt zu hören ist. Und auch Lewis’ erinnerungen: wir hätten es immer schon hören können, und hören, hätten wir gewollt, dass die Welt nicht von allen gleich geteilt wird.

Der Memex funktioniert so, dass er Klänge anders verteilt. Wer teilhaben will, kann oder könnte an dieser akustischen Intelligenz, die sich im Stück ganz in die Kräfteverhältnisse der Welt zurückzieht, muss gut hören können. Aus dem human frame, den Bush gerne annehmen will, bewegt sich die musikalische Intelliegenz, one movement and many, ins Partikulare seiner kolonialen und, darauf insistiert Lewis, postkolonialen Positionierung. Können wir, diese sturen "wirs", die sich immer im Publikum der Geschichte wähnen, das nicht hören, riskieren wir, an der eigenen Identität zu verarmen, zu verhungern, taub zu werden, zu verblöden. In seinen Anweisungen zur Dekolonialisierung Neuer Musik in acht nicht ganz so einfachen Schritten7 schreibt George E. Lewis unter Schritt Nr. 5: "A failure to hear these new sounds constitutes not only a form of sensory deprivation, but also an addiction to exclusion-as-identity that ends up, as addictions often do, in impoverishment of the field, or even its eventual death."8 Memex for Symphonic Orchestra eröffnet den Zugang zu einer Welt, die sich vorstellt, anders aufgeteilt zu sein. Eine Welt, die vom sonischen Rekonfigurieren der Erinnerungen lebendig wird. Im Feld von Lewis’ Musik geht es um ein Hören, das erst noch wach werden muss. Um Ohren, die uns erst noch wachsen müssen. As we may hear. 

Bildcollage: Ute Holl


  1. George E. Lewis, "'Is Our Machines Learning Yet?' Machine Learning’s challenge To Improvisation and the Aethetic", in: Machinic Assemblages of Desire: Deleuze and Artistic Research 3, edited by Paulo de Assis and Paolo Giudici, Leuven, Leuven University Press, 2021. 115-128. S. 115.
  2. George E. Lewis, A Power stronger than itself. The AACM and American Experimental Music. Chicago and London, University of Chicago press, 2008. S. ix.
  3. Vannevar Bush, "As We May Think", in: The Atlantic Magazine, July 1945.
  4. Ebd.
  5. George E. Lewis, "Why do we want our computers to improvise?" in: The Oxford Handbook of algorithmic music, edited by Roger T. Dean and Alex McLean, Oxford University Press, 2018. DOI: 10.1093/oxfordhb/9780190226992.013.29.
  6. Ebd.
  7. "New Music Decolonization in Eight Difficult Steps", https://www.van-outernational.com/lewis-en/
  8. Ebd.